Hätte Ikarus, der „fliegende Mensch“ der griechischen Mythologie, die wichtigsten Prinzipien der heutigen Bionik gekannt, wäre er vielleicht nicht abgestürzt. Der Sage nach schmolzen dessen genau nach dem Vorbild des Vogelflügels konstruierten Flügel aus Federn und Wachs, weil er der Sonne zu nahe kam, und ließen ihn abstürzen. Und auch in der Realität waren viele Jahrhunderte hindurch die Versuche des Menschen, die Natur zu kopieren, meist zum Scheitern verurteilt. Zwar gibt es Ausnahmen wie den Kunststoffschwamm oder den Klettverschluß, die auf einer rein morphologischen Nachahmung beruhen – doch die Regel sind sie nicht.
Für Werner Nachtigall, den renommiertesten deutschen Bioniker ist die Ursache dafür klar: „Die Natur liefert keine Blaupausen für die Technik. Die Meinung, man bräuchte die Natur bloß zu kopieren, führt in eine Sackgasse.“ Ähnlich formuliert es auch der englische Biomimetiker Julian Vincent: “ Eine exakte Kopie der Natur wäre unklug, denn die Natur ist nicht nur unglaublich komplex, in ihr herrschen auch völlig andere Bedingungen.“
Bioniker stehen daher vor der Herausforderung, erst einmal zu verstehen, welche physikalischen Prinzipien hinter einer erfolgreichen natürlichen Konstruktion stecken. Wer fliegen will wie ein Vogel, muß zunächst analysieren, warum der Vogel überhaupt fliegen kann. Erst dann kann die daraus gewonnene Erkenntnis in eine technische Struktur umgesetzt werden. „Entscheidend ist“ so betont auch Werner Nachtigall, „dass wir mit dem Know-how der Technik und Physik an die Natur herangehen, und die richtigen Fragen stellen.“
Und Fragen an die Natur haben im Moment Hochkonjunktur: Nicht mehr nur die klassischen Ingenieursdisziplinen wie Flugzeug- und Schiffsbau oder die Architekten suchen dort nach Anregungen und Impulsen, auch Materialwissenschaftler, Klimatechniker und Informatiker orientieren sich immer mehr an natürlichen Vorbildern. Denn die Konstruktionen der Natur sind vor allem eins: effektiv bei maximaler Energie- und Materialausnutzung. Im Zeitalter schwindender Ressourcen und drohender Klimaveränderung sind es vor allem diese Eigenschaften, die das Vorbild Natur interessanter denn je machen.
Stand: 21.03.2002