Fühlen wir uns eigentlich als Europäerin, als Europäer? Wenn ja: Woraus besteht die europäische Identität? Die Philosophin Marie-Luisa Frick von der Universität Innsbruck beschäftigt sich mit Fragen des kulturellen Dialogs auf verschiedenen Ebenen. Als Expertin für politische Philosophie und Rechtsphilosophie spielen dabei Menschenrechte für sie eine große Rolle.
Ihre Sicht auf Europa hat sich in den letzten Jahren stark geändert: Nicht nur aufgrund verschiedener gesellschaftspolitischer Ereignisse, sondern vor allem durch Aufenthalte in außereuropäischen Ländern. Reisen weg vom Kontinent, die ihre Selbstwahrnehmung als Europäerin verändert haben. Das Verlassen der europäischen Komfortzone hält sie für die Ausbildung einer europäischen Identität für wesentlich. Warum, erzählt Marie-Luisa Frick im Interview.
Was verstehen Sie unter europäischer Identität?
Frick: Die Identität eines einzelnen Menschen oder auch einer Gruppe von Menschen entwickelt sich immer erst in der Auseinandersetzung mit dem anderen – häufig auch in Abgrenzung zu anderen. Wirft man einen Blick darauf, wie Europa versucht, sich selbst zu definieren, dann geschieht das oftmals in Abgrenzung einerseits zu den USA, andererseits aber auch zu jenen Systemen, die nicht demokratisch verfasst sind. Das ist nicht per se zu verurteilen, denn man benötigt ein „Du“, um zu einem „Ich“ zu kommen.
Die Frage ist, wie mit dem „Du“ umgegangen wird und da haben wir es natürlich immer wieder mit Unschärfen und Zerrbildern des jeweils „anderen“ zu tun. Dennoch ist das ein unvermeidlicher Weg in einem Selbstfindungsprozess, den die europäischen Gesellschaften schon lange gehen und noch länger gehen werden müssen. Und dieser Prozess ist offen: Die europäische Identität wird nie abgeschlossen feststehen, denn jede Generation steht neu vor dieser Aufgabe.
Ist dieser Prozess in der Bevölkerung auch präsent?
Frick: Ich denke ja, und doch wird vieles als selbstverständlich angesehen. Dabei genügt schon ein Blick in die jüngere Vergangenheit, um festzustellen, dass das Europa, wie wir es heute erleben, eben alles andere als eine Selbstverständlichkeit ist. Meine Großeltern mussten den Zweiten Weltkrieg miterleben und für diese Generation war es völlig unvorstellbar, dass Europa sich nach dem Kalten Krieg von Ost nach West vereint.
Für meine Generation und sogar die meiner Eltern ist das Gegenteil nicht mehr vorstellbar. Wir haben aber keine Garantie für dieses Europa, daher sollte unser europäischer Lebensraum mehr Wertschätzung erfahren. Jeder Mensch in Europa trägt auch im Kleinen die Verantwortung für die Weiterentwicklung des Projektes Europa und der europäischen Identität.
Wie kann das gelingen?
Frick: Durch Verlassen des Bekannten, der Komfortzone Europa. Im Vergleich zu meiner Jugendzeit beobachte ich, dass heute weniger Menschen erkundend in die Welt reisen. Studierende bewegen sich vorwiegend in Europa und wenn nicht, dann in abgesicherten Gebieten, die von Wohlstand geprägt sind. Mit fehlt da an vielen Stellen die Lust auf das Fremde – und auf das Heraustreten aus Selbstverständlichkeiten.
Dabei halte ich gerade das für absolut wesentlich, denn letztlich ist Identitätsbildung immer ein persönlicher Prozess, für den es auch die entsprechenden, gerade auch irritierenden Anreize braucht. Viele Menschen denken, dass die Welt „da draußen“ die Ausnahme ist – und wir sind die Regel. Meiner Meinung nach ist es genau umgekehrt: Wir sind die Ausnahme, und das müssen wir erst verstehen lernen.
Was macht uns zur Ausnahme?
Frick: Es gibt viele verschiedene Sichtweisen auf mögliche Säulen der europäischen Identität. Aus einer religiösen Perspektive würde hier sicher das Christentum als prägende identitätsgebende Kraft genannt werden. Dem widerspreche ich nicht, aber im gleichen Atemzug würde ich die Aufklärung nennen. Das eint uns mit jenen Gesellschaften, die auch eine Epoche der Aufklärung durchlebt haben und trennt uns von jenen, die das nicht haben.
Die Aufklärung und der daraus gewachsene freiheitliche Lebensstil ist ein wesentlicher Eckpfeiler der europäischen Identität, auch wenn heute leider nur wenige mit „Aufklärung“ mehr verbinden als ein Schlagwort.
Viele Menschen identifizieren sich offenbar stärker mit Nationalstaaten als mit Europa.
Frick: Da muss man meiner Meinung nach unterscheiden. Ich denke, dass das Gefühl, Europäer zu sein, heute bei vielen, besonders jungen Menschen so stark ist wie nie zuvor. Gerade im Hinblick auf die europäische Staatsbürgerschaft, die die Menschen zum Teil einer größeren Union werden lässt, die ihnen wiederum viele Handlungsspielräume einräumt – und somit auch in das Bewusstsein hineinwirkt.
Der Rückzug der Menschen in ihre kleineren staatlichen Strukturen ist eine aus meiner Sicht verständliche Reaktion auf das Versagen der Europäischen Union auf vielen Ebenen. Viele Bürgerinnen und Bürger lässt das enttäuscht zurück. Wenn es im gemeinsamen Haus „Europa“ durch das Dach regnet, ist der Rückzug ins eigene „Schneckenhaus“ nachvollziehbar.
Schaden diese Tendenzen Europa?
Frick: Solche Krisen könnten meiner Meinung sogar positiv sein: Europa ist größer als seine Institutionen innerhalb der EU. Denken wir etwa an den Europarat mit seinem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der in seiner Zusammensetzung über die EU-Mitgliedsstaaten weit hinausgeht. Ich würde dennoch Europa nicht über Institutionen definieren. Europa kann meiner Ansicht nach nur gelingen, wenn es von unten – von den Menschen – getragen wird. Das kann auch, ja muss vielleicht sogar innerhalb vitaler Einzelstaaten geschehen. Die europäische Identität ist jedenfalls in Bewegung und das Experiment „Europa“ hat noch viel Spielraum für Entwicklungen.
Quelle: Universität Innsbruck