Während einige Rudimente wie die Weisheitszähne häufiger Probleme bereiten, gilt dies nicht für alle. Bei manchen rudimentären Strukturen war sich die Forschung sogar lange gar nicht sicher, ob sie überhaupt Funktionen im menschlichen Körper erfüllen und welche. Während sich einige Rudimente tatsächlich als weitestgehend funktionslose Überbleibsel entpuppt haben, gibt es auch solche, die im Körper wichtige Aufgaben übernehmen.
Clever neu erfunden
Organe, die zwar ihre ursprüngliche Funktion verloren haben, aber einen neuen adaptiven Zweck erfüllen, heißen Exaptationen. Metaphorisch ausgedrückt sind sie Rudimente, die sich nach ihrem Jobverlust beruflich neu orientiert haben. Anders als die rudimentären Weisheitszähne nutzen sie ihren Trägern dadurch weiterhin. Ein Beispiel für Exaptation sind die Federn von Vögeln. Ihre Vorfahren, die Dinosaurier, regulierten damit vermutlich primär ihre Körpertemperatur. Im Zuge der Evolution erfanden sich die Federn allerdings neu und taugen bei Vögeln nun exzellent zum Fliegen.
Steißbein: Vom Kletterer zum Läufer
Eine typisch menschliche Exaptation, die jeder von uns in sich trägt, ist das Steißbein. Am unteren Ende der Wirbelsäule gelegen, stellt es die rudimentären Reste eines Schwanzes dar. Der dreieckige Knochen besteht aus drei bis fünf miteinander verschmolzenen rudimentären Wirbeln, die bei unseren Vorfahren zum Schwanzskelett gehörten. Der Schwanz machte sie zu beweglichen Kletterern und half ihnen, dabei das Gleichgewicht zu halten.
Für einen Bruchteil unseres Lebens haben auch wir Menschen einen Schwanz, nämlich als Embryo im Mutterleib. Er taucht in der dritten Woche der embryonalen Entwicklung auf und baut sich nach der sechsten Woche durch Zelltod, den unser Körper selbst einleitet, wieder ab. Dieses Hin und Her könnte womöglich nötig sein, um Muskeln auszubilden, die später unseren Beckenboden formen.
Die Muskeln, die bei unseren Vorfahren für die Bewegung des Schwanzes zuständig waren, stützen heute bei Menschen und Menschenaffen die Beckenregion beim aufrechten Gang. Und das Steißbein ist mittlerweile Ankerpunkt für zahlreiche Sehnen, Bänder und Muskeln, darunter für den Gluteus maximus, den großen Gesäßmuskel. Außerdem hält es den hinteren Schließmuskel an Ort und Stelle. Das Steißbein hat im Laufe der Zeit also neue Aufgaben übernommen und unterstützt uns als Exaptation auch heute noch.
Nickhaut: Unscheinbarer Schutz
Auch die rudimentären Überreste der Nickhaut sind eine Exaptation, die uns in der modernen Welt weiterhin nutzt. Die Nickhaut ist ein durchsichtiges drittes Augenlid, das einige Tiere horizontal über ihr Auge ziehen und dabei weiterhin sehen können. Es säubert, befeuchtet und schützt das Auge. Bei Menschen hat sich die Nickhaut zur rudimentären Plica semilunaris zurückgebildet. Diese Bindehautfalte lässt sich beim Blick in den Spiegel als rosafarbene Struktur im inneren Augenwinkel erkennen. Es ist allerdings nicht genau bekannt, warum wir im Laufe der Evolution die Nickhaut verloren haben.
An ihrer Stelle erweist uns aber die Plica semilunaris zuverlässige Dienste. Sie ist daran beteiligt, Fremdkörper aus dem Auge zu schleusen. Fällt uns etwa eine Wimper ins Auge, tränen wir instinktiv und bewegen gleichzeitig den Augapfel, sodass die Wimper im inneren Winkel des Auges, bei der Plica semilunaris, landet. Dort reizt die Wimper das Gewebe nicht und wir können sie problemlos mit den Fingern entfernen.
Spitze Eckzähne: Zum Fleischzerfetzen gemacht?
Eine weitere Form der Exaptation im menschlichen Körper sind unsere spitzen Eckzähne. Affen nutzen ihre furchteinflößenden Hauer, um Eindruck bei potenziellen Partnern zu schinden. Bei Menschen haben die spitzen Eckzähne ihre Imponierfunktion schon vor etwa zwei Millionen Jahren verloren. Wir setzen sie stattdessen ein, um damit Fleisch oder andere feste Nahrung zu zerteilen. Dank ihrer kräftigen Wurzel und dem schneidezahnähnlichen Aufbau sind sie dafür gut geeignet.
Doch dieses Aussehen hat sich vermutlich nicht primär zum Zwecke der Ernährung entwickelt. Das war eher ein praktischer Nebeneffekt. Vermutlich nahmen menschliche Eckzähne ihre heutige Form an, weil sie sich Veränderungen in der Gesichtsanatomie anpassen mussten. Kurze, breite Zahnbögen und die Lücke zwischen den beiden Kiefergelenken an der Schädelbasis drängten sie wahrscheinlich in ihre heutige Form. So oder so lässt sich hervorragend mit ihnen abbeißen.
Körperbehaarung: Verlust durch die Savannenhitze
Es gibt auch Rudimente, die weder nutzen noch schaden. Sie sind zwar harmlos, aber in der heutigen Welt gleichzeitig auch nicht mehr sonderlich hilfreich. Dazu zählt unsere Körperbehaarung. Die meisten unserer Haarfollikel sind rudimentär. Ausnahmen bilden nur das Kopfhaar und die Geschlechtsbehaarung, also Bart-, Scham- und Achselhaare. Die restliche Körperbehaarung ist ein Rudiment des Fells, das unsere Ahnen einst trugen. Es hielt sie jedoch nicht nur warm, sondern beschützte sie gleichzeitig auch vor Hitze. Dichtes Fell kann nämlich die Hälfte der Sonnenenergie reflektieren, die auf den Körper trifft.
Wie dicht das Fell eines Primaten ist, hängt mit seiner Größe zusammen. Kleine Primaten haben dichteres Fell als große. Dementsprechend waren vermutlich schon Vormenschen, die Australopithecinen, aufgrund ihrer Größe in ein eher spärliches Fellkleid gehüllt. Als sich ihre Umwelt veränderte und Wälder der Savanne wichen, konnte dieses verbliebene Fell sie nur schlecht vor Überhitzung schützen. Um den Körper zu kühlen, wurden Schweißdrüsen immer wichtiger, Fellreste überflüssiger und schließlich rudimentär.
Ohrmuskeln: Zucken, wackeln und drehen
Das trifft auch auf unsere rudimentären Ohrmuskeln zu. Hunde und Katzen spitzen die Ohren in Richtung von Geräuschen, an denen sie interessiert sind. Menschen und Menschenaffen haben diese Fähigkeit jedoch verloren. Sie drehen stattdessen den Kopf in die entsprechende Richtung. Trotzdem sind die Muskeln, die das Ohr einst bewegten, immer noch vorhanden, wenn auch stark verkümmert.
Vermutlich verloren unsere Vorfahren die Fähigkeit, ihre Ohrmuscheln zu drehen, als sie sich evolutionär von den nachtaktiven Halbaffen abgrenzten und zu tagaktiven Primaten entwickelten.
Obwohl das schon vor langer Zeit geschah, hat dieses Erbe bis heute Spuren hinterlassen. Wir zucken nämlich immer noch unwillkürlich mit den Ohrmuskeln, wenn wir ein überraschendes Geräusch hören. Bei manchen Menschen reicht die Kraft der winzigen Muskeln sogar immer noch, um mit den Ohren zu „wackeln“.