Unter den Telengiten, einem kleinen im Altai lebenden Volk, das im Jahr 2000 offiziell als indigene Minderheit Russlands anerkannt wurde, gibt es den Glauben an „Altaidyng eezi“, den Hauptgeist des Altai, eine nichtmenschliche Instanz, die aber aktiv handlungsfähig ist.
Glaube an die Natur
Im Verständnis der Telengiten ist der Altai selbst lebendig, alle Tiere gelten als sein Eigentum. Altaidyng kann einem Menschen das Eigentum an einem Tier übertragen – wenn er ordentlich darum gebeten wird. Bei den Telengiten gilt es auch als Sünde, mehr zu jagen als benötigt wird, auf Berghängen Bäume zu schlagen oder Wasser zu vergiften. Alle diese Sünden können vom Altaigeist bestraft werden, was dann nicht nur den Sünder selbst betrifft, sondern auch seine Verwandten.
Stolzer Jäger oder illegaler Wilderer?
Die Kulturanthropologen Agnieszka Halemba und Brian Donahue vom Max-Planck-Institut für soziale Anthropologie in Halle an der Saale beschäftigen sich seit Jahren mit den indigenen Völkern des Altai. Sie haben für den WWF Russland im Jahr 2008 eine Studie erstellt, die einem Dilemma der heutigen Altai-Bewohner nachgeht. Ursprünglich gehört die Jagd fest zur Kultur der Telengiten, wie auch der anderen Ur-Einwohner der Region, . Als sich jedoch Umweltschützer zunehmend für den Altai einsetzten und verstärkte Schutzmaßnahmen forderten und umsetzten, wurden aus den ehemaligen Jägern plötzlich Wilderer.
Eine weltweit vertretene Annahme von Entwicklungshilfe- und Umweltschutz-Vertretern bei der Bekämpfung der Wilderei geht davon aus, das die Menschen aus ökonomischer Not wildern. Sobald sie günstige Alternativ-Einkommen haben, hören sie mit dem Wildern auf, so die These, von der viele Maßnahmen in Wilderei-gefährdeten Gebieten ausgehen.
Halemba und Donahue sind nun der Frage nachgegangen, ob sich dieser Ansatz im Altai überhaupt umsetzen lässt – wenn doch die Jagd ein elementarer Bestandteil für das Selbstverständnis der Ur-Einwohner im Altai ist.
Die Verlockung der Raubkatzen
Die beiden Anthropologen befragten Einwohner der beiden Republiken Altai und Tuva. Dabei stießen sie zunächst auf eine Mauer des Schweigens. Nur anonym, außerhalb von Wohnhäusern, in abgelegenen Gegenden oder in Autos wollten die Interviewten Auskunft geben. Dabei erfuhren die Wissenschaftler viel über die Haltung der Ur-Einwohner des Altai zur Natur.
Der Schneeleopard galt bei allen als schützenswert und als kraftvolles Symbol des Altai – solange er keine Schaf- oder Rinderherden angreife. Die meisten der interviewten Jäger gaben zu, sollten sie einem Tier bei der Jagd zufällig begegnen, es auch erlegen zu wollen.
Nie geschossen – aber sehr schmackhaft
Das Argali wollen die Jäger auch schützen, jagen würden sie es selbst nicht. Obwohl, so merkt Halemba an, jeder der Interviewpartner wusste, wie Argali-Fleisch schmecke.
Wölfe werden bei den Ur-Einwohnern des Altai nicht beim Namen genannt, um nicht deren Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Sie gelten als gefährlich für die Herden, die Anzahl der Tiere, so waren sich die Jäger einig, habe in den letzten Jahren zugenommen.
Unterschiedliches Verständnis
Die Menschen der Region, so das Fazit der Studie, seien keine „natürlichen Umweltschützer“. Sie hielten sich zwar an die Vorgabe ihres Glaubens, „nicht zu viel zu nehmen“. Doch die Einschätzung „viel“ oder „wenig“ sei sehr subjektiv. Häufig würde die Anzahl der zum Abschuss zur Verfügung stehenden Tiere als viel zu hoch eingeschätzt. Die Ur-Einwohner hielten sich selbst für geborene Jäger, denen die Jagd „einfach im Blut“ liege und die diese Eigenschaft vererbt bekommen hätten.
Offensichtlich, so Halemba und Donahue, würde der Ansatz, dass der Mensch Verantwortung trage für die Natur und deren Erhalt, bei Umweltschützern und Ur-Einwohnern völlig unterschiedlich verstanden und interpretiert. „Die Definitionen von Wilderei und erlaubter Jagd bei den Ur-Einwohnern,“ so die beiden Forscher, „haben gar nichts zu tun mit der offiziellen Rechtslage, mit Genehmigungen oder Verboten.“
Stand: 12.09.2009