Früher wurden spannende (Neben-)Wirkungen bekannter Medikamente häufig zufällig beobachtet. „Die erfolgreichsten Beispiele umfunktionierter Wirkstoffe hatten wenig mit einem systematischen Ansatz zu tun“, erklären Sudeep Pushpakom von der University of Liverpool und seine Kollegen in einem Fachartikel in „Nature Reviews Drug Discovery“. Doch heute wollen immer weniger Wissenschaftler diese Sache dem Zufall überlassen: Sie suchen strategisch nach neuen Anwendungsgebieten für alte Mittel.
Aber wie? Prinzipiell gibt es mehrere Möglichkeiten, nach bisher unbekannten Wirkungen bereits zugelassener oder in klinischen Studien zumindest als sicher erwiesener Arzneistoffe zu fahnden. Einer der gängigen Ansätze ist die computergestützte Datenauswertung: Dabei werden riesige Datensätze durchforstet und analysiert.
Suche in Datensätzen
Dies können zum Beispiel genetische Informationen sein. Im Rahmen genomweiter Assoziationsstudien lassen sich Zusammenhänge zwischen bestimmten Krankheiten und genetischen Variationen herstellen. Dadurch ergeben sich neue Einblicke in die Biologie dieser Leiden und möglicherweise neue Angriffspunkte für Therapien. Kennen Forscher nun bereits Medikamente, die auf diese sogenannten Targets wirken, haben sie einen Kandidaten zum Umfunktionieren.
Auch Daten aus klinischen Studien sind mitunter aufschlussreich. Womöglich finden sich bei der Durchsicht der Untersuchungsprotokolle bisher unbeachtete Hinweise auf interessante Wirkungen – und damit mögliche neue Anwendungsgebiete für ein therapeutisches Mittel.
Testen, testen, testen
Darüber hinaus lässt sich dem Wirkspektrum bekannter Medikamente mithilfe experimenteller Ansätze auf den Grund gehen. Beim sogenannten phänotypischen Screening beobachten Forscher zum Beispiel, wie sich unterschiedliche Wirkstoff-Verbindungen auf bestimmte Zelllinien oder Gewebeproben auswirken – etwa auf deren Wachstum oder Überleben.
Mit einem solchen Verfahren haben Steven Corsello vom Broad Institute in Cambridge und sein Team kürzlich mehr als 4.000 Wirkstoffe an menschlichen Krebszellen getestet. Das beeindruckende Ergebnis: Fast 50 in der Onkologie bisher nicht verwendete Mittel zeigten eine spezifische Antikrebs-Wirkung. Sie konnten Tumorzellen bestimmter Krebsarten töten. „Wir hätten uns schon glücklich geschätzt, nur einen Wirkstoff mit dieser Eigenschaft zu finden. Entsprechend überrascht waren wir, als es so viele wurden“, berichtet Corsellos Kollege Todd Golub.
Krebs, Infektionen und Co
Mit diesen und anderen Methoden suchen Forscher vor allem nach Medikamenten für Krankheitsbilder, für die dringend neue Behandlungsoptionen benötigt werden. Neben der oft tödlichen Volkskrankheit Krebs gilt dies unter anderem für bakterielle Infektionen. Denn das zunehmende Problem der Antibiotika-Resistenzen macht deren Behandlung immer schwieriger.
Auf der Suche nach einer Alternative für die an Durchschlagskraft verlierenden Mittel sind Philipp Le von der Technischen Universität München und seine Kollegen jüngst auf ein Krebsmedikament gestoßen: Bei einem Wirkstoff-Screening stellten sie fest, dass Sorafenib nicht nur das Wachstum von Tumorzellen bremst, sondern auch antibakterielle Eigenschaften hat.
„Attraktive Strategie“
Daraufhin modifizierten die Wissenschaftler das Mittel chemisch, um seine antibiotische Wirkung noch zu verstärken. Das Ergebnis ist ein Molekül namens PK150. Dieses wirkt sogar gegen den berüchtigten Krankenhauskeim MRSA – und zwar zehnmal besser als die Ausgangssubstanz. „Das Umfunktionieren von Arzneimitteln ist zu einer attraktiven Strategie bei der Suche nach innovativer Medizin geworden und erweist sich auch als vielversprechend, um neue resistenzfreie Antibiotika-Kandidaten zu entdecken“, erklärt das Team in seiner Veröffentlichung.