Entgegen der landläufigen Meinung ist Lepra keine Krankheit des dunklen Mittelalters. Auch heute noch infizieren sich jedes Jahr hunderttausende Menschen in über 100 Ländern mit den Lepra-Bakterien Mycobacterium leprae und lepromatosis. Doch warum kriegen wir davon nichts mit? Die Antwort ist simpel: Menschen, die an Lepra leiden, leben meist in weit entfernten Ländern, gehören auch dort zu den Ärmsten und werden aufgrund ihrer Symptome ausgegrenzt. Weiter weg von der westlichen Welt geht es nicht.
Eigentlich hatte die WHO geplant, die Lepra bis zum Jahr 2000 zu besiegen. Doch noch immer ist kein Ende in Sicht. Jedes Jahr infizieren sich über 200.000 Menschen neu, mehr als die Hälfte davon in Indien. In Afrika und Südostasien nimmt die Krankheit sogar wieder Fahrt auf und mehr Menschen stecken sich an. Eine Ausrottung ist also vorerst nicht in Sicht. Doch was macht das Unterfangen so schwierig?
Behandlung ist kostenlos, aber langwierig
So wie viele Krankheiten der Armut ist auch Lepra eigentlich heilbar. Zwar müssen Betroffene über viele Monate hinweg eine Vielzahl von Antibiotika einnehmen, die Behandlung ist jedoch kostenlos, da die WHO die Medikamente zur Verfügung stellt. Die Behandlungsdauer kann aber ein Problem sein: Stoppt die Gabe der Antibiotika, kommt es zu Rückfällen – ein häufiges Problem, wenn die Patienten in entlegenen Gebieten wohnen und schwer zu erreichen sind.
Lepra als Stigma
Die größte Hürde auf dem Weg zur Ausrottung ist aber eine andere: Die Erkrankten werden diskriminiert und ausgegrenzt. Eine schwere Form der Lepra entstellt die Betroffenen und verursacht verheerende Wunden. Es ist jedoch nicht die Krankheit selbst, die die Verstümmelungen verursacht. Wenn die Bakterien die peripheren Nerven befallen, attackiert das Immunsystem die Nervenzellen und zerstört sie. Die Folge: Die Erkrankten spüren keine Schmerzen mehr und verletzen sich; die betroffenen Körperteile – häufig Nase, Ohren, Finger und Zehen – entzünden sich und sterben ab.
Selbst nach der Heilung werden die Entstellten noch aus der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Ausgrenzung ist ein großes Problem, nicht nur gesellschaftlich. Aus Furcht trauen sich viele Erkrankte nicht, sich zu melden und in Behandlung zu gehen. Die WHO fordert deswegen, dass „keine Gesetze, Regeln oder Programme, die Diskriminierung von Personen mit Lepra erlauben“. Tatsächlich besitzen vier Länder aber immer noch aktive Gesetze, die den Betroffenen bestimmte soziale Ansprüche versagen.
Eine Krankheit der Ungleichheit
Lepra ist nicht besonders ansteckend – dafür ist enger Kontakt über Monate hinweg nötig. Die Krankheit breitet sich deswegen vor allem in engen Gemeinschaften und armen Familien aus. Überfüllte Haushalte sind deswegen besonders betroffen, genauso wie Menschen mit fehlender Schulbildung, schlechter Hygiene und unzureichender Ernährung. Die Krankheit bleibt somit in den ärmsten Gemeinschaften und zieht diese noch weiter hinab.
Tatsächlich ist Armut aber kein verlässlicher Prophet für Lepra – zumindest nicht auf nationaler Ebene. So zeigen manche Länder mit sehr niedrigem Entwicklungsindex (HDI), wie Eritrea oder Burkina Faso, nur sehr wenige Neuerkrankungen. In Brasilien dagegen – mit Platz 79 im HDI-Mittelfeld – stecken sich jedes Jahr über 26.000 Menschen an. Doch wenn es nicht nur die Armut ist, womit hängt Lepra dann noch zusammen?
In Brasilien fanden Forscher die Antwort: Ungleichheit, also die Differenz zwischen Arm und Reich. Je ungleicher die Einkommen in einer Region verteilt waren, desto mehr Lepra-Fälle traten auf. In den untersuchten Regionen hatte eine unkontrollierte Urbanisierung stattgefunden, der eine hohe Ungleichheit und gesellschaftliche Polarisierung folgten. Die Forscher vermuten, dass die Folgen der Ungleichheit – mehr Stress, dafür weniger Selbstachtung und sozialer Zusammenhalt – das Risiko einer Erkrankung erhöhten. Manche Forscher sehen Lepra deswegen eher als „Leiden einer ungesunden Gesellschaft“. Eine interessanter Gegensatz, wo doch die Gesellschaft bisher den Erkrankten die Schuld zuwies.
Yannick Brenz
Stand: 06.04.2018