Sowohl aufgrund seines Äußeren als auch wegen seiner Lebensweise verdient der Nacktmull durchaus das Prädikat „ungewöhnlich“. Doch was macht ihn für Forscher – allen voran für Mediziner – so interessant? Einer von vielen Gründen ist die Fähigkeit des Nagetiers, extremen Sauerstoffmangel zu überstehen.
Sauerstoff ist für Menschen und Tiere ein Lebenselixier. Sie brauchen den Stoff, um Glucose zu verstoffwechseln, die wiederum Energie an lebenswichtige Organe wie das Herz und das Gehirn liefert. Zu wenig davon und es drohen dramatische Folgen: von Übelkeit und Schwindel bis hin zum Absterben von Gewebe. Ohne jeglichen Sauerstoff wird ein normaler Mensch nach zwei Minuten ohnmächtig, nach fünf Minuten ist sein Gehirn irreparabel geschädigt, nach zehn Minuten ist er klinisch tot.
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Geheimnis Zuckertausch
Nicht so der Nacktmull: Ganz ohne Sauerstoff kann er bis zu 18 Minuten überleben – und zwar ohne bleibende Schäden davonzutragen. Extremen Sauerstoffmangel steckt er sogar mehrere Stunden lang problemlos weg. Der Trick: In Mangelsituationen stellt der Nager einfach seinen Stoffwechsel um, wie Gary Lewin vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin und seine Kollegen im vergangenen Jahr herausgefunden haben.
Reicht der Sauerstoff nicht mehr aus, um die Glucose aus der Nahrung umzusetzen, nutzt er stattdessen Fruchtzucker. Im Gegensatz zu den meisten anderen Säugern kann der Nacktmull Fructose nicht nur in einzelnen Organen wie der Niere oder der Leber verwerten, sondern auf den Zucker als Energieersatz für den gesamten Organismus zurückgreifen. Aus welchen Depots seines Körpers er die Fructose in Notlagen bezieht, ist noch unklar.
Dicke Luft im Tunnelsystem
Wahrscheinlich ist diese geniale Strategie des Nagers eine Anpassung an seinen Lebensraum. Denn in den verzweigten Tunneln voller atmender Koloniemitglieder ist der Sauerstoffgehalt sehr gering, die Kohlenstoffdioxidkonzentration dagegen viel zu hoch, um überleben zu können – zumindest für die meisten anderen Tiere. Dank des Fructose-Tricks kann der Nacktmull die Zellen seines Körpers jedoch auch bei Sauerstoffengpässen mit ausreichend Energie versorgen.
Kommt es hart auf hart, senkt er zusätzlich seinen Energieverbrauch: Er verfällt in eine winterschlafähnliche Starre, wenn gar kein Sauerstoff mehr vorhanden ist. Die Atmung wird langsamer, der Puls verringert sich, der Nacktmull verliert das Bewusstsein. Sobald wieder sauerstoffhaltige Luft an seine Nase gelangt, springt er quietschfidel auf und geht seiner Wege, als wäre nichts gewesen. Eine Maus wäre bereits nach 45 Sekunden ohne Sauerstoff tot.
Hoffnung für Infarkt-Patienten?
Forscher hoffen, dass diese Fähigkeit des Nacktmulls einmal Menschenleben retten wird. Die zeitweise Unterversorgung mit Sauerstoff bei einem Herzinfarkt oder Schlaganfall kann binnen von Minuten schwere Schäden anrichten. Gelänge es jedoch, den Körper wie beim Nacktmull auf den Fructose-Stoffwechsel umzustellen, könnten Patienten vor solchen Folgen bewahrt werden.
„Denkbar wäre das“, sagt Lewin. Schließlich seien Maus und Mull auf der genetischen Ebene zu 94 Prozent identisch. „Theoretisch sind also nur kleine Veränderungen nötig, um den Körper auf diesen ungewöhnlichen Stoffwechsel umzustellen.“
Daniela Albat
Stand: 16.02.2018