Ökologie

Kerngebiete, Wildtierkorridore, Schlüsselarten

Die Grundprinzipien des Rewildings

Ein starkes Zugpferd des europäischen Rewildings ist derzeit die niederländische Stiftung „Rewilding Europe“. Sie hat sich zum Ziel gesetzt, in zehn Regionen Europas mindestens eine Million Hektar Fläche für Rewilding zu sichern. Diese zehn Gebiete liegen unter anderem in Portugal, Schweden, Bulgarien und Italien. Obwohl jedes von ihnen an anderen Stellen „Starthilfe“ benötigt, orientiert sich die Stiftung bei ihrer Arbeit an den Grundprinzipien des Rewildings, den sogenannten 3Cs.

Donaudelta
Der Letea-Wald im Donaudelta gehört zu den Rewilding-Gebieten von Rewilding Europe. © Staffan Widstrand/Rewilding Europe

Core: Kerngebiete im Donaudelta

„Rewilding kann auf bestehenden Kerngebieten aufbauen, zum Beispiel auf ausgewiesener Wildnis, Nationalparks oder privat verwalteten Naturgebieten“, erklären Steve Carver von der University of Leeds und seine Kollegen das erste der drei Cs. Diese Kerngebiete („Core“) sollten möglichst groß, zusammenhängend und geschützt sein. Im dicht besiedelten Europa sind sie zwar schwerer zu finden, aber es gibt sie. Eines davon ist das 580.000 Hektar große Donaudelta, das in Rumänien, Moldawien und der Ukraine liegt.

„Als eines der am dünnsten besiedelten Gebiete Europas bietet das Donaudelta eine einzigartige Gelegenheit zur Wiederherstellung eines ganzen Spektrums artenreicher Lebensräume – von offenen Mündungssystemen, natürlich beweidetem Grasland und ausgedehnten Schilfgebieten bis hin zu Süßwassersümpfen, Küstenlagunen, flachen Seen und Flusswäldern“, beschreibt Rewilding Europe das Gebiet. Um seine natürlichen Funktionen wiederherzustellen, renaturiert die Stiftung gerade 40.000 Hektar Feucht- und Landflächen.

Grünbrücke
In Deutschland schaffen Grünbrücken Wildtierkorridore über Autobahnen. © RaBoe/Wikimedia Commons; CC-by-sa 3.0

Connectivity: Wildtierkorridore im Velebit

Das zweite C bezieht sich auf „Connectivity“, also auf die Vernetzung zwischen Kerngebieten. „Ihre Wiederherstellung fördert die Bewegung und Migration in der gesamten Landschaft und verbessert die Widerstandsfähigkeit gegenüber den Auswirkungen des Klimawandels“, erklären Carver und seine Kollegen. Im kleinen Maßstab findet sich Connectivity hierzulande zum Beispiel beim Errichten von Grünbrücken über Autobahnen, die Waldgebiete miteinander verbinden.

An Connectivity in größerem Maßstab arbeitet Rewilding Europe gerade unter anderem im kroatischen Velebit-Gebirge. Die Stiftung hat dort 30.000 Hektar Jagdgebiete erworben, die zuvor zwei große Nationalparks voneinander getrennt hatten. Durch diesen Wildtierkorridor im XXL-Format sind die beiden Parks nun zu einer einzigen großen Fläche zusammengewachsen.

Carnivores: Rückkehr der Schlüsselarten

Große Raubtiere erfüllen eine wichtige, stabilisierende Funktion im Ökosystem und gelten daher als das dritte C des Rewildings („Carnivores“). Ohne sie bleiben die Wildbestände unreguliert, was sich wiederum in einer Negativkaskade auf viele weitere Bestandteile des Ökosystems auswirkt. Nachdem große Raubtiere wie Wolf, Luchs und Bär in Europa vielerorts schon vor langer Zeit ausgerottet wurden, will das Rewilding sie nun Schritt für Schritt wieder ansiedeln. Nur mit ihnen können Ökosysteme auf Dauer allein klarkommen.

Doch Raubtiere sind nicht die einzigen Tiere, die im Fokus des Rewildings stehen. Vielmehr orientieren sich Auswilderungsprogramme an sogenannten Schlüsselarten. Ebenso wie die Hauptrolle eines Theaterstücks wichtiger für die Handlung ist als die Nebencharaktere, gibt es auch Tierarten, die wichtiger für das Ökosystem sind als andere.

„Wenn die Populationen dieser Schlüsselarten zurückgehen oder verschwinden, gibt es nur sehr wenige oder gar keine anderen Arten, die ihre Rolle übernehmen können“, erklärt Raquel Filgueiras von Rewilding Europe. In der Folge kann ein Ökosystem dann im schlimmsten Fall kollabieren und zu einer leeren Kulisse werden.

Wisent in Rumänien
Die Wisent-Bestände nehmen europaweit zu – wie hier in Rumänien. © Daniel Mirlea /Rewilding Europe

Ein Bison für Europa

Eine typische Schlüsselart für europäische Ökosysteme ist der Wisent, auch Europäischer Bison genannt. Indem die Tiere einst durch Europa stapften und mampften, schufen sie charakteristische offene Landschaften. In den 1920er Jahren wurden die letzten wilden Wisente getötet. Ihre Art überlebte nur dank 54 Tieren, die in verschiedenen Zoos gehalten wurden. Mittlerweile streifen aufgrund von Rewilding-Bemühungen wieder 7.000 Wisente durch Europa – zum Beispiel im polnischen Białowieża-Urwald oder in den südlichen Karpaten.

Doch nicht jede Art hatte so viel Glück. So bleiben etwa der Auerochse oder das Tarpan-Wildpferd für immer ausgerottet. Wenn Rewilding-Bemühungen ihre einstigen Funktionen im Ökosystem wiederherstellen wollen, müssen sie stattdessen auf nah verwandte Arten oder nicht-originalgetreue Rückzüchtungen zurückgreifen.

Die sechs Cs

Im Laufe der Zeit ist das 3C-Modell immer wieder erweitert worden. So kam 2014 etwa das Prinzip des Mitgefühls („Compassion”), 2019 das der Koexistenz („Coexistence“) und 2020 das der Klimaresilienz („Climate resilience“) hinzu. Sie sollen daran erinnern, dass beim Rewilding auch das Wohlergehen der ausgewilderten Tiere, ihre Koexistenz mit den Menschen vor Ort und die Klimawandel-Widerstandsfähigkeit eines Ökosystems mit in Naturschutz-Entscheidungen einfließen müssen.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Mehr Wildnis wagen
Wie Rewilding zerstörte Ökosysteme in Europa wiederbeleben kann

Emanzipation der Natur
Rewilding als Hilfe zur Selbsthilfe für Ökosysteme

Kerngebiete, Wildtierkorridore, Schlüsselarten
Die Grundprinzipien des Rewildings

Rewilding in Deutschland
Das Oder-Delta wird wieder wild

Rewilding gone wrong
Wenn Renaturierung nach hinten losgeht

Ist Europa bereit für Rewilding?
Wildnissuche auf einem dicht besiedelten Kontinent

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