Anstatt auf die therapeutische Wirkung fremder Hände auf der Haut setzt der Haptik-Forscher Martin Grunwald von der Universität Leipzig auf die Berührung durch enganliegende Neoprenanzüge. Seine Patienten: Menschen mit Magersucht. Für die Behandlung ihrer Anorexia nervosa sollen sie mindestens dreimal am Tag für eine Stunde in maßgeschneiderte Kautschuk-Anzüge schlüpfen, die normalerweise Taucher oder Surfer tragen. Was steckt hinter dieser seltsam anmutenden Methode?
Verarbeitungsstörung im Gehirn
Wissenschaftler gehen heute davon aus, dass bei Magersüchtigen das sogenannte Körperschema gestört ist. Das heißt: Sie nehmen ihren Körper mental anders wahr als er in Wirklichkeit aussieht. „Nach unserer Ansicht liefert das haptische System die psychophysiologischen Basisdaten für das Konstrukt Körperschema“, erklärt die Forschergruppe um Grunwald ihren Ansatz. „Störungen des Körperschemas sind daher aus unserer Sicht die Folge elementarer Verarbeitungs- beziehungsweise Wahrnehmungsstörungen im Bereich des Tastsinns.“
Tatsächlich lassen sich solche Störungen im Gehirn von Patienten erkennen: Hirnregionen, die für die Verarbeitung von Körperbildern zuständig sind, weisen bei Magersüchtigen zum Teil eine geringere Zelldichte auf. Zudem sind sie auch funktionell schwächer verbunden als bei Gesunden und kommunizieren demnach weniger gut miteinander. Je stärker dieser Verbindungsfehler ist, desto dicker finden sich die Betroffenen, wie ein Team um den Neurowissenschaftler Boris Suchan von der Ruhr-Universität Bochum im Test mit weiblichen Patienten herausfand: „Diese Auffälligkeiten könnten erklären, warum Frauen mit Magersucht sich selbst als dick wahrnehmen, obwohl sie objektiv untergewichtig sind“, sagt Suchan.
Korrektur durch haptische Reize
Wie es zu dieser gestörten Wahrnehmung kommt, ist unklar. Grunwalds Team glaubt jedoch, dass ein Mangel an Körperkontakt in bestimmten Entwicklungsphasen der Kindheit ein gestörtes Körpergefühl, und damit das Auftreten von Anorexie, begünstigen kann. Die Idee der Forscher: Komplexe Körperreize und -erfahrungen können dem Gehirn helfen, den Körper wieder angemessen wahrzunehmen – und diese korrigierenden Reize soll ein Neoprenanzug liefern. Denn das enge Kleidungsstück übt einen steten Druck auf Haut und Gelenke des Trägers aus. Dadurch bekommt das Gehirn deutliche Informationen darüber, wo der Körper wirklich endet.
Unter anderem in der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Berliner Charité und am Universitätsklinikum Salzburg sind die Neoprenanzüge bereits erfolgreich erprobt worden. Es scheint, dass sich eine Mehrheit der Behandelten durch die Anzüge deutlich besser fühlt und über ein realeres Körperbild verfügt.
Repräsentative Studien zur Wirksamkeit der ungewöhnlichen Therapiemethode gibt es bislang allerdings noch nicht. Ende 2016 sollen jedoch erste Ergebnisse einer Pilotstudie vorliegen. Die Wissenschaftler wollen dabei vor allem überprüfen, ob der positive Effekt, von dem die Patienten vielfach berichten, auch langfristig anhält.
Daniela Albat
Stand: 02.09.2016