Die Herstellung und flexible Nutzung von Werkzeugen gilt als ein klassisches Indiz für intelligentes Verhalten. Nur dank dieser Entwicklung haben wir uns vor über zwei Millionen Jahren trotz fehlender Klauen und Reißzähne zum gefürchtetsten Jäger des Planeten erhoben.
Dass viele Tiere Material aus ihrer Umgebung als Werkzeug benutzen ist bekannt: Otter verwenden Steine als Muschelöffner ein und auch Schmutzgeier nutzen sie zum Knacken von Straußeneiern. Doch diese Handlungen basieren meist auf angeborenem, instinktivem Verhalten. Anders ist es bei Schimpansen und Bonobos. Die Menschenaffen setzen verschiedene Materialien flexibel ein und stellen auch eigenen Werkzeuge her. Lange Zeit waren Menschenaffen jedoch die einzigen Tiere, denen man die Herstellung von eigenen Werkzeugen zugebilligt hatte.
Bettys Fleischhaken
Vögel fielen uns allenfalls durch ihre zum Teil herausragende „Schnabelfertigkeit“ beim Nestbau auf. Aber Vertreter der Rabenvögel nutzen ihre Geschicklichkeit gepaart mit einer unbestreitbaren Cleverness tatsächlich auch zum gezielten Einsatz einfacher Werkzeuge. In Experimenten beschränkten sie sich dabei nicht bloß auf das Verwenden eines Stöckchens, mit dem sie ohne zu Zögern Fleischstücke aus unzugänglichen Kästen bugsieren.
Sie stellen sogar spontan eigenes Werkzeug für ihre Bedürfnisse her, wie das Video von Krähe Betty beweist. Die hatte 2002 selbst Alex Kacelnik und seine Kollegen von der University of Oxford überrascht. Die Forscher hatten Betty und ihrem Bruder Abel im Rahmen eines Experiments einen Fleisch-Snack kredenzt. Die Leckerbissen waren in kleinen Eimern mit Henkel platziert, die jedoch in tiefen Plexiglaszylinder standen, sodass die Krähen nicht mit den Schnäbeln herankamen.
Schlauer als gedacht
Die Wissenschaftler wollten eigentlich herausfinden, wie gut Krähen den Nutzen von Werkzeugen für eine bestimmte Aufgabe einschätzen können. Dazu hatten sie den Geschwistern verschieden stark gebogene Drähte bereitgelegt, von denen aber nur einer einen richtigen Haken am Ende formte.
Abel erfüllte sofort die Erwartungen des Teams und schnappte sich den richtigen Draht, um damit nach dem Futter zu angeln. Seiner Schwester blieben nur die unbrauchbaren Drähte. Doch die Forscher hatten die Intelligenz der Neukaledonischen Krähe unterschätzt: Obwohl sie noch nie zuvor mit Metalldraht in Kontakt gekommen war und ihre Artgenossen in der Natur nicht mit dem Material Metall vertraut sind, bog sie sich einen der übrigen Drähte kurzerhand selbst mit dem Schnabel zurecht.
Die Schimpansen der Lüfte
Auf dem Gebiet der Werkzeugherstellung seien die Krähen damit sogar den Schimpansen überlegen, kommentieren die Forscher die Leistung von Betty. Kombinationsgabe und Weitsichtigkeit demonstrieren Krähen auch wiederholt in Experimenten mit mehrstufigen Rätseln. Das „Puzzle“, was Alex Taylor von der Auckland University für seine Krähe entworfen hat, gehört sicherlich zu den kniffligsten Herausforderungen, denen eine Krähe je ausgesetzt war.
Um an das verlockende Fleischstück in einem Plexiglaskasten zu kommen, muss der 007 genannte Testvogel eine Sequenz von acht Schritten in der richtigen Reihenfolge abarbeiten, wie ein Video der BBC zeigt. Dass Krähen einen Stock zum herausbugsieren von Futter aus einer vergitterten Box nutzen ist eine Sache. Aber dass 007 einen kurzen Stock benutzt, um an kleine Steine zu gelangen, die er wiederum zur Beschaffung eines langen Stockes benötigt – das ist eine wahre gedankliche Meisterleistung.
Die Krähe muss für diese Leistung nicht nur zu der Schlussfolgerung in der Lage sein, dass ein Werkzeug auch zur Beschaffung von anderem Werkzeug taugt. Sie muss auch einen komplexen Plan abarbeiten, ohne unterwegs ihr eigentliches Ziel aus den Augen zu verlieren – nämlich das Fleisch in der Plexiglasbox. Weil eine derartige Intelligenz mit der von Menschenaffen in einer Liga spielt, gelten Krähen seither auch als die „Schimpansen der Lüfte“.
Christian Lüttmann
Stand: 02.06.2017