Gelsingers Tod entpuppt sich keineswegs als tragischer Einzelfall, wie bis zum Jahr 2000 angenommen. Nachforschungen enthüllen mindestens sechs weitere Todesfälle im Rahmen verschiedener Gentherapiestudien. Darunter eine 74-jährige Darmkrebspatientin, die nach der Infusion von gentechnisch veränderten Zellen an schweren inneren Blutungen starb, eine 46-jährige Frau mit Brustkrebs im Endstadium, die ihre von Komplikationen begleitete Gentherapie nur um einen Monat überlebte, und ein weiterer Darmkrebspatient, bei dem als Folge einer Gentherapie mit Adenoviren hohes Fieber und tödliche Herzfunktionsstörungen auftraten.
Hilfe für die Bubble-Babys
Und auch eine bis dahin als absolutes Musterbeispiel geltende Studie erweist sich wenig später als weniger sicher als erhofft. Im Gegensatz zu den Medizinern im Fall Jesse Gelsinger nutzen die Forscher des Pariser Hospitals Necker für ihre Gentherapie nicht Adenoviren als Genfähren, sondern eine andere Virensorte, Retroviren. Mit diesen behandeln sie Kinder, die an der angeborenen Immunschwäche X-SCID leiden. Die sogenannten „Bubble-Babys“ besitzen wegen eines Gendefekts im Knochenmark keine weißen Blutkörperchen und können daher nur in einem sterilen Zelt überleben, abgeschirmt von allen Krankheitserregern.
Der Arzt Alain Fischer und sein Team behandeln die Kinder, indem sie ihnen Stammzellen aus dem Knochenmark entnehmen und diesen im Labor das fehlende Gen mittels einer retroviralen Genfähre einimpfen. Anschließend erhalten die Kinder ihre genetisch reparierten Stammzellen mittels Infusion wieder zurück. Schon bald entwickeln die Kinder funktionsfähige weiße Blutkörperchen und können ihre sterilen Zelte verlassen – die Therapie schlägt an. Die amerikanische Arzneimittelbehörde FDA kommentiert den Erfolg damals fast erleichtert: „Die Ereignisse in Frankreich zeigen, dass, wenn man die richtige Krankheit hat und das richtige Gen einschleusen kann, man gute Ergebnisse erzielen kann.“ Und noch im Frühjahr 2002 berichtet eine Reportage im Magazin GeoWissen ausführlich über Alain Fischers X-SCID-Kinder und die „Renaissance einer Hoffnung“ in der Gentherapie.
Erst zu wenig, dann zu viel
Doch im Oktober 2002 erfährt die X-SCID-Studie einen herben Rückschlag: Bei einem der Kinder, die gentherapeutisch behandelt worden war, hören die weißen Blutkörperchen nicht mehr auf, sich zu vermehren – der dreijährige Junge erkrankt an Leukämie. Bald zeigt sich auch der Grund dafür: Die Retroviren haben das veränderte Gen an verschiedenen Stellen im Erbgut der Stammzellen eingebaut. Eine Kopie landete dabei zufällig genau an dem Genort, der das Wachstum der weißen Blutkörperchen reguliert. Diese Genveränderung könnte damit die „Notbremse“ der Zellvermehrung außer Betrieb gesetzt haben.
Damit ist klar: Das Problem ist grundsätzlicher Art. Die bisherigen Genfähren sind zu unsicher und unspezifisch. Wie aber sonst bekommt man die Ersatz-DNA in das Erbgut?
Nadja Podbregar
Stand: 08.02.2013