Gurgelnd schlägt das Wasser über dem Forschungstauchboot JAGO zusammen, das rasch und lautlos in die Tiefe gleitet. Schummriges Dämmerlicht dringt durch die Glaskuppel in das enge Innere, das alsbald von der ewigen Dunkelheit des Nordatlantiks abgelöst wird. Nur das schmale Scheinwerferlicht gibt den Blick immer wieder frei auf majestätische Quallen, huschende Fische und trübe Planktonschwärme. Immer weiter geht es hinab, bis endlich in mehreren hundert Metern Tiefe der Grund des Meeres schemenhaft auftaucht. Eine erste Aufregung macht sich bei Professor André Freiwald von der Universität Erlangen-Nürnberg bemerkbar. Denn schon bald wird er wieder mit eigenen Augen sehen, was ihm bis vor einigen Jahren niemand glauben mochte: Korallenriffe am Boden des Nordmeers.
Rätselhafte Überlebenskünstler
Nur wenige Grad Celsius zeigt das Außenthermometer des Tauchboots an. Eben diese Kälte und das fehlende Sonnenlicht ließen die Fachwelt immer wieder an der Existenz der Korallen zweifeln. Dabei hatte es schon länger Hinweise auf die mögliche Existenz der Riffe gegeben. Fischer fanden immer mal wieder seltsame Bruchstücke von „Ästen“ in ihren Netzen und auch an den Stränden Norwegen spülte das Meer ab und zu Überreste der Korallen an. Doch wie sollten diese unter den unwirtlichen Bedingungen überleben können?
Freiwald und sein Team gingen den Gerüchten Mitte der 1990er Jahre erstmals systematisch auf den Grund – und wurden fündig. Heute zählt der Paläontologe zu den weltweit führenden Experten für Kaltwasserkorallen und fördert immer wieder neue Erkenntnisse über die seltsame Welt in der Tiefe zutage. „Die eigentliche Erforschung der biologischen Langzeitdynamik und Funktionalität der Artengruppen steht aber erst am Beginn“, schränkt Freiwald die Erfolge der letzten Jahre rasch ein. Daher ist Freiwald auch bei dieser Tauchfahrt im Rahmen von HERMES dabei, einem EU-Projekt zur Erforschung der europäischen Kontinentalränder.
„Bonsai-Wald“ am Meeresgrund
Zahlreiche Fische umschwärmen die Glaskuppel, als sich JAGO vorsichtig dem „Unterwassergarten“ nähert. Zart und zerbrechlich schillern die hellweißen bis zartrosa Ästchen, welche die Steinkorallen fächerförmig in alle Richtungen ausstrecken. Krebse, Muscheln, Anemonen und Kleinstlebewesen tummeln sich auf dem haushohen Riff, das sich in Jahrtausenden aus den kalkhaltigen Überresten der Korallen gebildet hat. Langsam und in Millimeterarbeit entnimmt der Pilot mithilfe eines Greifarms einige Proben aus dem Untergrund. Durch deren Analyse im Labor, so hofft Freiwald, lässt sich mehr über die Lebensbedingungen in der Tiefe in Erfahrung bringen.
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Rund zwei Stunden verbleibt der Forscher am Riff vor Norwegens Küste, macht Fotos und Videoaufnahmen und nimmt Wasserproben. Doch letztendlich bleibt ihm nur noch ein letzter Blick auf die Korallenfelder durch die schmale Sichtkuppel des Tauchboots – denn auch wenn die Technik theoretisch ein Überleben von bis zu vier Tagen unter Wasser ermöglicht, sind die Forscher schließlich doch nur Gast am Meeresgrund. Schweren Herzens gibt Freiwald daher den Befehl zum Auftauchen und langsam verlieren sich die Riffe wieder in der Dunkelheit. Auch wenn der Paläontologe gespannt an die Auswertung der gesammelten Proben und die Sichtung des Videomaterials denkt, so freut er sich doch auch auf die nächste Tauchfahrt.
Denn trotz der konzentrierten Arbeit in der engen Kapsel bleibt dem Forscher immer wieder Zeit zum Staunen. So weiß Freiwald von einem besonderen Tauchgang in der Nähe der Lofoten zu berichten. Dort war er abseits der Riffe auf dichte Ansammlungen von Brachiopoden auf dem flachen Meeresboden gestoßen. „Brachiopoden, auch als „Armfüßer“ bezeichnet, waren besonders im Erdaltertum sehr weit verbreitet“, erklärt Freiwald. „Als Paläontologe fühlte ich mich bei den Tauchfahrten in eine Zeit vor 300 Millionen Jahren zurückversetzt. Ein sehr beeindruckendes Erlebnis.“ Dieses wird wohl nicht das letzte gewesen sein, denn bis alle Geheimnisse um die Korallengärten gelüftet sind, wird Freiwald wohl noch häufig in die kalte Welt der Steinkorallen hinab tauchen müssen.
Stand: 06.07.2006