Feuerstein war nicht das einzige Material, in dessen Verarbeitung die Neandertaler mit dem modernen Menschen mithalten konnten. Ein weiterer Rohstoff stand ihnen reichlich zur Verfügung, war jedoch etwas komplizierter zu verwerten: Knochen. Diese hatten gegenüber Stein den Vorteil, dass sie leichter und biegsamer waren.
Älteste Knochenwerkzeuge vom Neandertaler
Die Vertreter der Art Homo sapiens hatten dies bereits erkannt. So nutzen sie Knochen nicht nur als leichten Steinersatz für scharfkantige und spitze Werkzeuge, sie schliffen auch die Enden von Knochen zu runden Schabern ab, sogenannten Lissoirs. Mit diesen handlichen, gut greifbaren Werkzeugen rieben sie so lange über Tierhäute, bis das Leder weich, glatt und wasserbeständiger wurde.
Die ältesten Funde dieser bislang nur dem modernen Menschen zugeschriebenen Werkzeuge stammen jedoch von jemand anders: Ausgrabungen in Abri Peyrony und Pech-de-l’Azé I, zwei Neandertaler-Lagerplätzen nahe der Dordogne im Südwesten Frankreichs, brachten insgesamt vier rund 50.000 Jahre alte Fragmente solcher Knochenschaber zutage. Beide Fundstätten enthalten nur Hinterlassenschaften der Neandertaler, Hinweise auf eine spätere Nutzung durch moderne Menschen gibt es nicht.
Kultureller Transfer?
Mikroskopische Untersuchungen enthüllten typische Gebrauchsspuren an den Werkzeugen, die darauf hindeuten, dass die Neandertaler diese Knochenschaber bereits genauso nutzten, wie später der moderne Mensch: zum Glätten und Weichmachen von Leder. Das Knochenwerkzeug aus Pech-de-l’Azé I ist aber älter als die frühesten Belege zu modernen Menschen in Westeuropa und viel älter als andere spezialisierte Technologien zur Herstellung von Werkzeugen aus Knochen.
Das könnte bedeuten, dass nicht der moderne Mensch, sondern vielmehr der Neandertaler diesen Knochenwerkzeugtyp erfand. „Dies ist der erste Hinweis darauf, dass es möglicherweise zu einem ‚kulturellen‘ Transfer zwischen Neandertalern und unseren direkten Vorfahren gekommen ist“, sagt Marie Soressi von der Universität Leiden. Unsere Vorfahren könnten sich dann diese Technik abgeguckt haben, als sie nach Europa einwanderten.
Ansgar Kretschmer
Stand: 13.03.2015