Die Göttinger Forscher untersuchten weitere Aspekte, die für den Übergang von einem zentralen zu einem dezentralen Netzwerk diskutiert werden. Etwa die Frage, was passiert, wenn eine einzelne Übertragungsleitung beschädigt ist oder ausfällt. Das kann bei bestehenden Stromnetzen eine Art Domino-Effekt auslösen, wie ein europaweiter Stromausfall im November 2006 zeigte.
Kreuzfahrtschiff macht halb Europa stromlos
Ursache des damaligen Ausfalls war eine 380 Kilovolt-Hochspannungsleitung, die über die Ems führte. Sie wurde kurzzeitig abgeschaltet, weil ein riesiges Kreuzfahrtschiff von der Werft in Papenburg hinaus auf die Nordsee überführt wurde. Das Schiff aber war so hoch, dass man befürchtete, seine Aufbauten würden die an damals noch 84 Meter hohen Masten hängende Leitung touchieren, daher schaltete man den Strom ab. Weil sich aber die Netzbetreiber nicht gut genug abgestimmt hatten, führte dies zu einer Art Kettenreaktion, bei der in weiten Regionen Deutschlands, Frankreichs, Belgien, Österreichs, Italiens und selbst Spaniens für einige Stunden der Strom ausfiel.
Was aber passiert, wenn in einem dezentraleren Netz eine Verbindung ausgeschaltet wird oder ausfällt? Laut der Simulationen der Göttinger Wissenschaftler reagieren solche Netze wesentlich robuster auf den Ausfall einer einzelnen Leitung. Der Grund: es gibt im feinmaschigen Netz immer Leitungen in der Nachbarschaft, die die Last einer ausgefallenen Leitung übernehmen können. Anders als im grobmaschigen Netz gibt es nur wenige unverzichtbare Hauptverbindungen, deren Ausfall ein ganzes Netz lahmlegen könnte. In ihrem Modell erwiesen sich die Hauptleitungen zwischen England und Schottland als besonders brisant. Steigt aber die Zahl der dezentralen Minikraftwerke, nimmt die Zahl dieser kritischen Leitungen deutlich ab.
Sensibler bei Schwankungen auf der Verbraucherseite
Die Simulation enthüllte aber auch eine Schattenseite stark dezentralisierter Netze: Denn sie sind anfälliger gegen starke Schwankungen auf Verbraucher-Seite. Solche Schwankungen treten beispielsweise auf, wenn Millionen von Menschen gleichzeitig ihre Waschmaschinen anschalten. Große Kraftwerke können nach Angaben der Max-Planck-Forscher solche Fluktuationen besser abpuffern als kleine. Denn sie speichern in ihren rotierenden Generatoren mehr kinetische Energie, die sie bei Bedarf freisetzen können. Diese rotierenden Reserven, die beispielsweise Solarzellen komplett fehlen, kann das Netz kurzfristig anzapfen, um Schwankungen zu kompensieren.
Marc Timme, Dirk Witthaut / Max-Planck-Gesellschaft
Stand: 14.09.2012