Zoologie

Liebenswerte Nager

Ratten sind sozial, schlau und einfühlsam

Tempelratten
Im indischen Karni-Mata-Tempel werden Ratten verehrt und gefüttert. © Madelon van de Water Noledam/ CC-by-sa 3.0

Im indischen Karni-Mata-Tempel leben rund 20.000 Ratten. Doch sie mit Gift und Fallen zu vertreiben, käme den Einheimischen nicht in den Sinn. Im Gegenteil: Sie verehren und füttern die kleinen Nager. Denn im hinduistischen Glauben gelten die vierbeinigen Tempelbewohner als die wiedergeborenen Seelen geliebter Mitmenschen. Jeder Kontakt mit den Ratten gilt im Karni-Mata-Tempel als segensreich – sei es, indem die Nager einem über die Füße springen oder indem man etwas isst und trinkt, an dem sich zuvor bereits die Ratten bedient haben.

Auch außerhalb Indiens gibt es zahlreiche Kulturen, die Ratten nicht als eklige Kanalbewohner abstempeln. Im chinesischen Astrologie-Kalender gelten im Jahr der Ratte geborene Menschen zum Beispiel als besonders intelligent, kreativ und humorvoll. Die Nager sind dort außerdem ein Symbol für Wohlstand. In anderen Ländern sind Ratten wiederum aufgrund ihres Fleisches beliebt. Gegrillt und mit Zitronengras, Kurkuma und Knoblauch serviert, gelten sie zum Beispiel in Kambodscha als Delikatesse.

Ratte als Haustier
Farbratten gelten als zahme und verschmuste Haustiere. © dlHunter/ iStock

Vom Kanalekel zum Haustier

Auch im Westen verbessert sich langsam das Image der verhassten Ratte. Dazu beigetragen hat etwa der 2007 erschienene Disney-Animationsfilm „Ratatouille“, in dem die Ratte Remy zum Sternekoch aufsteigt und selbst härteste Kritiker mit ihren Kreationen begeistert. Auch Kinderbücher stellen Ratten zunehmend nicht mehr als Ungeziefer und Bösewichte dar.

Diese neue Welle der Rattensympathie könnte auch dafür gesorgt haben, dass immer mehr Menschen aus Laborratten gezüchtete Farbratten als Haustiere halten. „Ratten sind Tiere, die eine innige Freundschaft zum Pfleger aufbauen können. Wenn die Ratten einem ihr Herz geschenkt haben, dann gehört einem das wirklich bis zum Lebensende“, erklärt Rattenzüchterin Karin Lauscher gegenüber ARD alpha.

Zutrauliche Ratten sind außerdem dafür bekannt, den Körperkontakt mit ihren Bezugspersonen zu genießen und gerne mit ihnen zu kuscheln. Junge Ratten „kichern“ sogar ähnlich wie kleine Kinder, wenn man sie am Bauch kitzelt. Allerdings sind die Quietschtöne zu hoch, um sie mit dem menschlichen Ohr wahrnehmen zu können.

Ratten empfinden Mitleid

Ihre liebenswerten Seiten haben Ratten auch bereits in zahlreichen Experimenten demonstriert. Besonders deutlich tritt dabei meist ihre menschenähnliche Empathie in den Vordergrund. So hat sich etwa herausgestellt, dass die Nager ihren Artgenossen Schmerzen am Gesicht ansehen können und diesen Anblick nicht sonderlich mögen – wahrscheinlich weil sie mit den leidenden Ratten mitfühlen.

Das verdeutlicht auch ein Experiment, bei dem Ratten die Möglichkeiten hatten, besondere Leckerlis zu bekommen, dafür aber einen Hebel betätigen mussten, mit dem sie einem Artgenossen Elektroschocks zufügen. Sobald sie diesen Zusammenhang erkannt hatten, entschieden sich die meisten Nager gegen das begehrte Leckerli. Sie wählten stattdessen Futter, das nicht mit dem Leid anderer verbunden war. Und das egal, ob die leidende Ratte ihnen bekannt oder fremd war. Sie ließen den Elektroschock-Hebel sogar dann unberührt, wenn er doppelt so viele Leckerlis ausspuckte wie ein anderer.

„Ratten haben eine Abneigung dagegen, anderen Schaden zuzufügen – wie wir Menschen“, leitet Julien Hernandez-Lallement vom Niederländischen Institut für Neurowissenschaften in Amsterdam daraus ab. Diese Abneigung war im Experiment vor allem bei jenen Ratten stark ausgeprägt, die bereits selbst Bekanntschaft mit Elektroschocks gemacht hatten. Sie litten offenbar wortwörtlich mit ihrem Gegenüber mit.

Ratten kuscheln
Ratten sind soziale Tiere, die ihre Beziehungen mit Körperkontakt und Fellpflege stärken. © goinyk/ Getty Images

Samariter mit Rattenschwanz

Auch in anderen Situationen kommt Ratten ihre soziale, empathische Ader zugute. So haben Forschende um Inbal Ben-Ami Bartal von der University of Chicago etwa bereits beobachtet, dass freilaufende Ratten gefangene Artgenossene aus ihrem Käfig befreien – und zwar auch dann, wenn sie dafür keine Belohnung erhalten. „Die Ratten umkreisten den Käfig, bissen ihn und kontaktierten ihren Artgenossen durch die Käfigöffnungen“, beschreiben Bartal und ihre Kollegen, was sie während des Experiments sahen.

„Wir haben ihnen nicht gezeigt, wie sie die Tür öffnen können und es ist auch nicht ganz einfach. Aber die Ratten versuchten es wieder und wieder, bis es schließlich gelang“, berichtet Bartal. „Es gab keinen anderen Grund für die Handlung dieser Ratten als ihren Wunsch, die Bedrängnis ihres gefangenen Artgenossen zu beenden.“

Was die Forschenden noch mehr verblüffte, waren jedoch die Ergebnisse eines ähnlich aufgebauten Folgeexperiments, bei dem die Ratten dieses Mal vor zwei Käfigen standen. In einem befand sich ein gefangener Artgenossen, in dem anderen Schokolade. Statt zunächst die Schokolade allein zu plündern und sich dann mit der gefangenen Ratte zu beschäftigen, befreiten einige der freilaufenden Ratten zuerst den Gefangenen und teilten dann mit ihm die Schokolade. Die Biologen werten dies als ein noch eindeutigeres Zeichen für Empathie und Kooperation.

Laborratten
In Laborexperimenten helfen Ratten einander häufig aus der Klemme und gehen sogar Tauschhandel mit Artgenossen ein. © shironosov/ Getty Images

Clevere Teamplayer

Wie die selbst erlernte Fähigkeit des Käfigöffnens zeigt, sind Ratten nicht nur sozial und einfühlsam, sondern auch intelligent. Verschiedene Experimente konnten in diesem Zusammenhang außerdem nachweisen, dass Ratten sich über falsche Entscheidungen ärgern, Vorstellungskraft besitzen, von der Zukunft träumen und sogar verschiedene menschliche Sprachen auseinanderhalten können.

Kombiniert mit ihrer sozialen Lebensweise führt diese Intelligenz unter anderem dazu, dass Ratten untereinander Tauschhandel betreiben. Die Nager merken sich, wenn ein Artgenosse gut zu ihnen war, etwa indem er ihnen etwas von seinem Futter abgegeben oder ihr Fell gepflegt hat. In der Zukunft tendieren sie dann dazu, sich bei hilfsbereiten Ratten mit derselben oder einer gleichwertigen Leistung zu revanchieren.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Ratten
Gefährliche Plagegeister oder schlaue Hausgenossen?

Unsere verborgenen Mitbewohner
Wie Ratten sich die Städte mit uns teilen

Dem Rattenhass auf der Spur
Von Pest, Ausrottung und Ekel

Liebenswerte Nager
Ratten sind sozial, schlau und einfühlsam

Nützlich und ausgenutzt
Ratten im Dienste des Menschen

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