Im indischen Karni-Mata-Tempel leben rund 20.000 Ratten. Doch sie mit Gift und Fallen zu vertreiben, käme den Einheimischen nicht in den Sinn. Im Gegenteil: Sie verehren und füttern die kleinen Nager. Denn im hinduistischen Glauben gelten die vierbeinigen Tempelbewohner als die wiedergeborenen Seelen geliebter Mitmenschen. Jeder Kontakt mit den Ratten gilt im Karni-Mata-Tempel als segensreich – sei es, indem die Nager einem über die Füße springen oder indem man etwas isst und trinkt, an dem sich zuvor bereits die Ratten bedient haben.
Auch im Westen verbessert sich langsam das Image der verhassten Ratte. Dazu beigetragen hat etwa der 2007 erschienene Disney-Animationsfilm „Ratatouille“, in dem die Ratte Remy zum Sternekoch aufsteigt und selbst härteste Kritiker mit ihren Kreationen begeistert. Auch Kinderbücher stellen Ratten zunehmend nicht mehr als Ungeziefer und Bösewichte dar.
Diese neue Welle der Rattensympathie könnte auch dafür gesorgt haben, dass immer mehr Menschen aus Laborratten gezüchtete Farbratten als Haustiere halten. „Ratten sind Tiere, die eine innige Freundschaft zum Pfleger aufbauen können. Wenn die Ratten einem ihr Herz geschenkt haben, dann gehört einem das wirklich bis zum Lebensende“, erklärt Rattenzüchterin Karin Lauscher gegenüber ARD alpha.
Zutrauliche Ratten sind außerdem dafür bekannt, den Körperkontakt mit ihren Bezugspersonen zu genießen und gerne mit ihnen zu kuscheln. Junge Ratten „kichern“ sogar ähnlich wie kleine Kinder, wenn man sie am Bauch kitzelt. Allerdings sind die Quietschtöne zu hoch, um sie mit dem menschlichen Ohr wahrnehmen zu können.
Ratten empfinden Mitleid
Ihre liebenswerten Seiten haben Ratten auch bereits in zahlreichen Experimenten demonstriert. Besonders deutlich tritt dabei meist ihre menschenähnliche Empathie in den Vordergrund. So hat sich etwa herausgestellt, dass die Nager ihren Artgenossen Schmerzen am Gesicht ansehen können und diesen Anblick nicht sonderlich mögen – wahrscheinlich weil sie mit den leidenden Ratten mitfühlen.
Das verdeutlicht auch ein Experiment, bei dem Ratten die Möglichkeiten hatten, besondere Leckerlis zu bekommen, dafür aber einen Hebel betätigen mussten, mit dem sie einem Artgenossen Elektroschocks zufügen. Sobald sie diesen Zusammenhang erkannt hatten, entschieden sich die meisten Nager gegen das begehrte Leckerli. Sie wählten stattdessen Futter, das nicht mit dem Leid anderer verbunden war. Und das egal, ob die leidende Ratte ihnen bekannt oder fremd war. Sie ließen den Elektroschock-Hebel sogar dann unberührt, wenn er doppelt so viele Leckerlis ausspuckte wie ein anderer.
Auch in anderen Situationen kommt Ratten ihre soziale, empathische Ader zugute. So haben Forschende um Inbal Ben-Ami Bartal von der University of Chicago etwa bereits beobachtet, dass freilaufende Ratten gefangene Artgenossene aus ihrem Käfig befreien – und zwar auch dann, wenn sie dafür keine Belohnung erhalten. „Die Ratten umkreisten den Käfig, bissen ihn und kontaktierten ihren Artgenossen durch die Käfigöffnungen“, beschreiben Bartal und ihre Kollegen, was sie während des Experiments sahen.
„Wir haben ihnen nicht gezeigt, wie sie die Tür öffnen können und es ist auch nicht ganz einfach. Aber die Ratten versuchten es wieder und wieder, bis es schließlich gelang“, berichtet Bartal. „Es gab keinen anderen Grund für die Handlung dieser Ratten als ihren Wunsch, die Bedrängnis ihres gefangenen Artgenossen zu beenden.“
Wie die selbst erlernte Fähigkeit des Käfigöffnens zeigt, sind Ratten nicht nur sozial und einfühlsam, sondern auch intelligent. Verschiedene Experimente konnten in diesem Zusammenhang außerdem nachweisen, dass Ratten sich über falsche Entscheidungen ärgern, Vorstellungskraft besitzen, von der Zukunft träumen und sogar verschiedene menschliche Sprachen auseinanderhalten können.
Kombiniert mit ihrer sozialen Lebensweise führt diese Intelligenz unter anderem dazu, dass Ratten untereinander Tauschhandel betreiben. Die Nager merken sich, wenn ein Artgenosse gut zu ihnen war, etwa indem er ihnen etwas von seinem Futter abgegeben oder ihr Fell gepflegt hat. In der Zukunft tendieren sie dann dazu, sich bei hilfsbereiten Ratten mit derselben oder einer gleichwertigen Leistung zu revanchieren.