Schauplatz Afar-Dreieck in Äthiopien. Es ist der 30. November 1974. Der Wissenschaftler Donald Johanson hat zusammen mit einigen Kollegen in der Nähe des Awash-Flusses sein Lager aufgeschlagen, um nach den Fossilien uralter Lebewesen zu suchen. Heiß, öde und lebensfeindlich ist es in diesem Teil Ostafrikas. Und dennoch sind die Forscher guten Mutes hier fündig zu werden.
Plattentektonik leistet Hilfestellung
Und das hat seinen Grund: Die Region liegt am nördlichen Ende des Ostafrikanischen Grabenbruchs und gilt als geologisch besonders aktiv. Hier bewegen sich gewaltige Erdplatten jedes Jahr ein Stückchen weiter voneinander weg: Das Gebiet wurde dabei im Laufe der Jahrmillionen mehrfach gehoben und gesenkt. Dadurch treten immer wieder auch ältere Gesteinsschichten zutage, die zum Teil erhebliche Mengen an Fossilien enthalten – Relikte aus einer längst vergangenen Zeit als es hier noch feuchter war und eine reiche Lebenswelt existierte. Schon früher hatten Forscher daher im Afar-Dreieck wiederholt versteinerte Zeugen ausgestorbener Tier- und Pflanzenarten gefunden.
„AL 288-1“ als Jahrhundertfund
Dies wissen die Forscher um Johanson, die bereits zum zweiten Mal hier sind, und hoffen auf ein bisschen Glück. Und das Schicksal meint es tatsächlich gut mit ihnen. Schon nach kurzer Zeit stoßen sie im Gelände auf Überreste eines fossilen Skeletts, die dort verstreut herum liegen – Arm- und Beinknochen, große Teile des Beckens, aber auch Relikte des Schädels sind erhalten.
Offiziell heißt der Fund „AL 288-1“ – Afar Locality 288-1 -, unter Wissenschaftler und in den Medien hat die Entdeckung aber innerhalb kürzester Zeit einen Spitznamen weg: „Lucy“ – angeblich, weil im Lager der Forscher während der Arbeit unentwegt der Beatles-Song „Lucy in the sky with diamonds“ lief.
Mühevolle Detektivarbeit
Was folgt ist ein gigantisches Puzzlespiel. In mühevoller Detektivarbeit werden Lucys Überreste nach der Bergung im Cleveland Museum in den USA penibel zusammengesetzt und analysiert. Die Ergebnisse entpuppen sich als wissenschaftliche Sensation. Denn Johanson kann zusammen mit anderen Forschern zeigen, dass es sich bei dem Fund um die Knochen einer bis dahin unbekannten „Vormenschenart“ handelt – Australopithecus afarensis. Vormenschen sind relativ einfache Urahnen des Homo sapiens, die mehr oder minder kurz nach der Aufspaltung der Entwicklungslinien von Mensch und Affe existierten. Diese begann nach neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen vor rund zehn Millionen Jahren und war vermutlich vor etwa fünf bis sieben Millionen Jahren endgültig abgeschlossen.
Lucy lebte in der Afar-Region wahrscheinlich vor 3,2 Millionen Jahren und war zum Todeszeitpunkt vermutlich rund 25 Jahre alt, so die Wissenschaftler. Johanson, Professor Tim White von der Universität von Kalifornien in Berkeley und Professor Yves Coppens vom Collège de France haben aber noch eine weitere spektakuläre Nachricht parat: Lucy hatte bereits gelernt, aufrecht zu gehen. Dies ließ sich anhand von Anpassungen im Skelettbau unschwer nachweisen.
Der erste Schritt der Menschwerdung
Australopithecus afarensis war damit mehr als nur ein Affe und hatte bereits den ersten Schritt zur Menschwerdung getan. Denn die Entwicklung der so genannten Bipedie ist eine derart bedeutende Veränderung, „dass wir berechtigt sind, alle Arten von zweibeinigen Menschenaffen als menschlich (human) zu bezeichnen“, wie der Paläoanthropologe Richard Leakey meint.
Und in der Tat hatte der vielleicht noch wackelige aufrechte Gang für Australopithecus afarensis viele Vorteile: Die schon sehr menschenähnlichen Hände wurden frei für vielfältige neue Aufgaben. Dazu gehörten unter anderem Nahrungssuche und –aufnahme, Verteidigung oder Kinderbetreuung – ein unschätzbarer evolutionärer Vorteil.
Versteinerte Fußspuren in Laetoli
Spätere Forschungsergebnisse lieferten dann weitere Indizien für den aufrechten Gang bei Lucy und ihren Artgenossen. So fanden Wissenschaftler um Mary Leakey Ende der 1970er Jahre in Laetoli, Tansania, uralte versteinerte Fußspuren in vulkanische Aschen. Wie Datierungen ergaben, waren sie rund 3,6 Millionen Jahren alt und konnten ziemlich sicher Australopithecus afarensis zugeordnet werden, der nachgewiesenermaßen damals in diesem Gebiet lebte.
Bis heute gilt Lucy als eines der am besten erhaltenen Skelette unserer frühesten Vorfahren, den so genannten Hominini. Ob Lucy aber tatsächlich eine Frau war, wie ihre Entdecker anhand der Beckenknochen schlossen, ist längst nicht mehr unumstritten. Viele Forscher stufen Lucy heute eher als männlich ein.
Stand: 22.01.2010