Ibna ist zu Rechtsanwalt Ahmed Zarif Stankzia gekommen, weil er fest daran glaubt, dass sein Bruder unschuldig ist. Und weil er daran glaubt, dass Gerechtigkeit in Afghanistan möglich ist. Ibnas Bruder ist des Mordes an seiner 17jährigen Ehefrau angeklagt. Er soll sie vergiftet haben.
Dem Rechtsanwalt hat Ibna erzählt, was seiner Meinung nach alles falsch gelaufen ist, bei der Verhaftung und der Anklage seines Bruders. Die Polizei habe nur der Mutter seiner Schwägerin zugehört und ihren Anschuldigungen geglaubt, die Obduktionsergebnisse aus dem Krankenhaus seien nicht berücksichtigt worden, der Staatsanwalt habe sich bestechen lassen und dennoch nichts für den Bruder getan. Dass es Rechtsanwälte gibt, die einen Angeklagten vor Gericht verteidigen und die Klärung solcher Ungereimtheiten im Verfahren einfordern können, hat Ibna überhaupt erst von Mitgefangenen seines Bruders in der Untersuchungshaft erfahren.
Neue Generation von Juristen
Denn Verteidiger gibt es noch nicht lange in den Gerichtssälen Afghanistans. Auch heute haben sie es nicht leicht, akzeptiert zu werden, gibt Ahmed Zarif Stankzia zu: „Viele Richter und Staatsanwälte sind erstaunt, wenn wir vor Gericht erscheinen“. Doch der 32jährige Stankzia ist Vertreter einer neuen Generation im Rechtssystem Afghanistans, eines Rechtssystems, das mit der neuen Verfassung im Jahr 2003 offiziell wurde.
Er ist der Meinung, dass Richter und Staatsanwälte nicht gut genug ausgebildet sind, um die Gesetze richtig anzuwenden. Viele von ihnen hätten die neue Verfassung und die Gesetze noch nie gelesen, „es gibt sogar Analphabeten unter ihnen.“ Viele seien bestechlich, vom Staat erhielten sie zu wenig Lohn. Stankzia jedoch ist überzeugt davon, dass man diese Situation ändern kann.
Deutsche bilden Richter aus
Zahlreiche nationale und internationale Organisationen sind der gleichen Ansicht und haben deshalbdie Aus- und Weiterbildung der Juristen in Afghanistan übernommen. So bildet das Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Heidelberg (MPIL) seit 2003 Richteranwärter und Staatsanwälte aus. „Wir sind das einzige Institut, dass offiziell vom Obersten Gericht reale, anonymisierte Gerichtsfälle erhält, um sie für unsere Arbeit zu nutzen,“ so Tilmann Röder, der Projektleiter.
Drei Rechtssysteme zur gleichen Zeit
Schwierig sei in Afghanistan vor allem, dass quasi drei Rechtssysteme parallel nebeneinander bestünden. Das formale staatliche Recht, sowie informell das traditionelle und das islamische Recht, die Scharia.
Die Frage, wie ein Rechtssystem unter diesen Bedingungen überhaupt funktionieren kann, hält Tilmann Röder vom MPIL für sehr schwierig zu beantworten: „Erforderlich wären es zunächst, die staatliche Justiz zu verbessern – bessere Ausbildung, bessere Bezahlung, Korruptionsbekämpfung hieße das. Außerdem müssen staatliche Justiz und Schuras oder Dschirgas klar getrennt werden.“ Schuras sind Ältestenräte auf Dorfebene, Jirgas den Schuras übergeordnete Ratsversammlungen. „Beide werden jedoch vom Justizministerium als Mediatoren in privatrechtlichen Konflikten beauftragt. – Sie dürfen keine Strafen verhängen, das kommt aber immer wieder vor. Und da es viel zu wenige staatliche Richter/Staatsanwälte und Anwälte gibt, ist die Mediation durch Schuras und Jirgas momentan eine unverzichtbare Entlastung der staatlichen Institutionen. Wer soll sonst Konflikte lösen?“
Schwierig sei auch das Verhältnis zwischen der afghanischen Verfassung und der Scharia: „Artikel 3 der Verfassung sagt, dass Gesetze den Grundsätzen des Islam nicht widersprechen dürfen, Artikel 7 sagt, dass das Völkerrecht zu beachten ist. Das ist nicht immer unter einen Hut zu bringen. Ähnlich schwierig ist die Frage nach dem von Gerichten anzuwendenden Recht.“
Ohne innere Sicherheit kein Rechtsstaat möglich
Rechtsanwalt Ahmed Zarif Stankzia sieht noch ein anderes großes Problem. „So lange wir keine innere Sicherheit in Afghanistan haben, wird es auch keine Rechtsstaatlichkeit geben.“
Dass Rechtsstaatlichkeit und innere Sicherheit einander bedingen, sieht auch Afghanistan-Experte Thomas Ruttig von der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik so. Schlechte Regierungsführung, Korruption und mangelnde Rechtsstaatlichkeit sind für Ruttig die institutionellen Schwächen der Regierung von Präsident Hamid Karzai. Und sie sind in seinen Augen auch eine Ursache der sich stetig verschlechternden Sicherheitslage in Afghanistan.
Auch die internationale Gemeinschaft, so Ruttig, trage Verantwortung für die jetzige Lage: „Zu früh wurde die neue Kabuler Regierung mit internationaler Legitimität versehen, zu lange hat man ihre Verhalten unkritisch beobachtet.“ Doch „nur wenn die afghanischen Institutionen auch im Innern Legitimität genießen, werden sich bedeutende Teile der Bevölkerung mit dem Stabilisierungs- und Wiederaufbauprozess identifizieren.“
Mangelnde Glaubwürdigkeit und das fehlende Vertrauen in den Staat – das sind in Afghanistan immer wieder von den Afghanen selbst genannte Gründe für die Instabilität ihres Landes.
Die Guten verlassen das System
Nur wenig habe sich in den vergangenen Jahren innerhalb des Rechtssystems zum Guten gewendet, sagt Rechtsanwalt Ahmed Zarif Stankzia. „Ja, in Kabul ist es etwas besser geworden. Doch wie sieht es in den Provinzen weitab von Kabul aus?“
Er selbst war früher auch Staatsanwalt und hat sich nach der Ausbildung durch den International Legal Fund als Rechtsanwalt selbständig gemacht. Er verdient jetzt bis zu 1.500 US-Dollar im Monat – das Dreißigfache eines Juristen im afghanischen Staatsdienst.
„Die Guten gehen,“ sagt er selbst. Ob er sich vor Gericht als Verteidiger durchsetzen und den Bruder seines Klienten Ibna vor ungerechter oder zu hoher Strafe schützen kann, ist ungewiss.
Stand: 25.07.2008