Wer das Jantar Mantar von Jaipur betritt, glaubt sich zunächst in einer modernen Bauausstellung oder einem überdimensionierten Skulpturenpark. Denn statt der Teleskopschüsseln oder geschlossenen Kuppeln moderner Observatorien wagen hier merkwürdig geformte Bauten aus Sandstein und Marmor in den Himmel auf. Einige ähneln riesigen Treppen, die ins Nichts zu führen scheinen, andere erinnern eher an Miniaturausgaben des Kolosseums in Rom.
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Doch so verschieden diese Bauwerke anmuten, ihre Architektur dient einem Zweck: der Vermessung des Himmels. Allen Instrumenten ist gemeinsam, dass sie Sichtlinien zu den Gestirnen nutzten, um die Zeit oder die Position bestimmter Himmelskörper zu bestimmen. Ihre enorme Größe ist dabei quasi ein Nebenprodukt, denn nur sie gewährt die nötige Präzision der Messungen.
Samrat Yantra – die größte Sonnenuhr der Welt
Sie ist das größte Instrument in Jai Singhs Sternwarten: die große Sonnenuhr von Jaipur. Das Samrat Yantra – „höchstes Instrument“ – ragt 27 Meter über dem Boden auf. Es besteht aus einem keilförmigen Bauwerk, das dem Schattenstab (Gnomon) kleinerer Sonnenuhren entspricht. Beiderseits dieser „Himmelstreppe“ formen zwei nach oben gebogene, mit Marmor ausgekleidete Bögen die Skala dieser Riesen-Sonnenuhr.
Die Biegung der Skalen hat dabei eine wichtige Funktion: Wäre die Skala flach, würde sich der Schatten je nach Tageszeit unterschiedlich schnell über den Boden bewegen. Um die korrekte Uhrzeit ablesen zu können, müsste die Skala daher für die Mittagsstunden engere Markierungen, für Morgen- und Abendstunden weitere aufweisen. Weil die beiden Skalen des Samrat Yantra aber Bögen bilden, die senkrecht zur Rotationsachse der Erde ausgerichtet sind, gleichen sie die Verzerrung aus.
Der Schattentrick
Auf den Marmorskalen kennzeichnen feine, in zwei Millimeter Abstand platzierte Rillen die Zeiteinheiten. Durch die enorme Größe der Sonnenuhr lässt sich damit die Zeit bis auf zwei Sekunden genau ablesen – theoretisch. Denn es gibt einen Haken: Wer den Schattenwurf im Samrat Yantra genauer anschaut, stellt fest, dass der Schattenrand durch den Großen Abstand des Gnomonturms zur Skala wie ausgefasert wirkt – statt einer scharfen Kante sieht man einen weichen, je nach Tageszeit bis zu drei Zentimeter breiten Übergang. Er macht es fast unmöglich festzustellen, auf welchem Skalenstrich der Schatten endet.
War die Sonnenuhr demnach doch nicht so genau, wie es auf den ersten Blick scheint? Des Rätsels Lösung bringt ein simples Hilfsmittel: ein kleines Stück Draht oder eine zwischen den Händen gespannte, dünne Schnur. Bewegt man sie nun langsam über der Skala hin und her, wirft die Schnur eine scharfe, dünne Schattenlinie. An der Stelle, an der der Schnurschatten mit dem verwischten Gnomon-Schatten verschmilzt, wird abgelesen.
Neben der Zeitmessung diente das Samrat Yantra auch dazu, um die Höhe der Sonne oder eines anderen Himmelskörpers über dem Horizont zu vermessen. Dafür stieg ein Helfer die Treppe des Gnomon hinauf und hielt einen Stab in die Höhe. Aus der Treppenhöhe, von der aus der Schatten auf die Skala fiel und dem Skalenabschnitt konnten die Astronomen die Deklination der Sonne ermitteln. Über das Anvisieren des Stabträgers von der Skala aus ließ sich auch die Deklination eines Sterns oder Planeten ermitteln.
Nadja Podbregar
Stand: 15.09.2017