Malend zur Erkenntnis

Aus der Kunst wird Wissenschaft

Wasserstudien, 1513 © Royal Library, Windsor

In Mailand erlebt Leonardo seine produktivste Zeit, 20 Jahre soll er in der Stadt bleiben. Es gelingt ihm, am Hofe der Mailänder Fürstenfamilie, der Sforza, Fuß zu fassen. Herzog Ludovico Sforza, genannt „il Moro“, der Dunkle, ernennt ihn zum Festungsbauer und Militärexperten, später zum Zeremonienmeister, und Leonardo hat die Möglichkeit, neben der Malerei seinen vielfältigen Interessen nachzugehen. Er eignet sich Kenntnisse der Naturwissenschaften und Ingenieurskunst an, studiert Mathematik, Geometrie, Statik, Hydraulik, Geologie, Optik, Anatomie, Zoologie, Botanik, Kartographie, Schiffsbau und Architektur.

Hier in der Hauptstadt der Lombardei beginnt Leonardo, seine Gedanken in Notizbüchern niederzuschreiben – mit der linken Hand, in Spiegelschrift und stets auf ästhetisches Layout bedacht. Am Ende seines Lebens umfassen die so genannten Codices mehr als 13.000 Seiten und haben Ausmaß und Gehalt einer Enzyklopädie. Heute gelten die Arbeitshefte, von denen nur etwa 7.000 Blätter erhalten sind, als das wahre Vermächtnis Leonardo da Vincis.

Skizze für ein Wasserrad, 1480-82 © Biblioteca Ambrosiana, Mailand

Mit seinen in den Codices entwickelten Visionen ist Leonardo der technischen Entwicklung um Jahrhunderte voraus. Er entwirft Stadtpläne, hydraulische Pumpen, Automobile, Maschinengewehre, Kräne, Räderwerke, Fallschirme, Tauchglocken und Fluggeräte. Daneben notiert er Beobachtungen und Gedanken zu den Kräften der Natur und persönliche Vermerke. Er erläutert Wasser- und Gesteinskreislauf, das Werden der Kontinente und den Zeugungsakt des Menschen. Zwischen anatomischen Skizzen, Landkarten und Grafiken von Fossilien oder Pflanzen finden sich Einkaufs- und Bücherlisten wie auch Erörterungen um den Sinn der Wissenschaft. Neben Diagrammen zu Strömungsdynamik und Zugkraft stehen Regeln für das perspektivische Zeichnen, Verbesserungen von Gießerei-Verfahren, Rechnungen, Termine, Anweisungen für hydraulische Experimente oder Methoden zum Messen von Luftdruck, Schwerkraft oder Wasserströmung.

Pferdestudien, 1490 © Royal Library, Windsor

Ihm selbst erscheinen die Erfindungen als logische Fortsetzung seiner Kunst. Er malt, um zu verstehen. Kunst und Wissenschaft sind für ihn stets miteinander verbunden. Seine Kenntnisse zur visuellen Wahrnehmung beispielsweise gewinnt er etwa so: Seine „wichtigsten Werkzeuge“ beschäftigen ihn derartig, dass er die Anatomie der Augen untersucht. Von da ausgehend erörtert er die Funktionsweise des Gesichtssinns, disputiert weiter über die Natur des Lichts, gelangt zu den Sternen, die das Licht widerspiegeln. Dann treibt es ihn zum Wasser – wie bewegt es sich? – bis er zwischen den Wellen auf einem See, dem Schall und den Sonnenstrahlen Analogien feststellt. Versuche mit einer Dunkelkammer, mit Licht und Schatten führen ihn schließlich wieder zu seinen Problemen als Maler zurück.

Beobachten, Zeichnen und Erfinden sind für Leonardo eins. Er sieht sich selbst als intelligenten und kritischen Spiegel, der nicht nur wiedergibt, sondern reproduziert und verbessert. Mit seinen meisterhaft aufgezeichneten Gedanken legt Leonardo so den Grundstein für die moderne, beobachtende und abstrahierende Wissenschaft.

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Stand: 27.01.2005

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Leonardo da Vinci
Genialer Geist im falschen Jahrhundert

Lehrjahre im Schoße der Renaissance
Eine Jugend in der Toskana

Malend zur Erkenntnis
Aus der Kunst wird Wissenschaft

Eine Frage der Perspektive
Lust und Frust beim „Abendmahl“

„Ein Kanal von der Brust zur Gebärmutter“
Anatomische Studien

„Die Mechanik ist das Paradies der Mathematik“
Von Automobilen, Fahrrädern und Perpetua mobilia

Der Vögel Flug
Leonardos Traum vom Fliegen

„Flüsse haben die Berge zersägt“
Wie Leonardo die Welt sah

Der Fluch des Unvollendeten
Achillesferse eines Genies

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