Und auch mit einem anderen Vorurteil räumten Wissenschaftler mittlerweile auf: Neandertaler waren keine ausschließlichen „Mammutjäger“. Die oft dargestellten regelrechten Treibjagden, bei denen ganze Mammutherden mit Fackeln und Speeren über eine Klippe getrieben werden, lassen sich wissenschaftlich nicht belegen. Mammutknochen sind an Neandertaler-Fundstätten eher selten.
Mammuts ja, aber nicht nur
Allerdings gibt es eine Ausnahme: Am Fundplatz La Cotte de St. Brelade auf der Kanalinsel Jersey haben Forscher ganze Haufen von Mammutknochen ausgegraben. Die Neandertaler dort haben offenbar immer wieder Mammuts erlegt und effizient ausgeschlachtet, wie Bearbeitungsspuren an den Knochen zeigen.
Aber auch hier waren die Neandertaler keine spezialisierten Mammutjäger. Unter den gefundenen Knochen befinden sich auch solche von Wollnashörnern, Rindern, Hirschen und Pferden. Geoff Smith vom Archäologischen Forschungszentrum und Museum für menschliche Verhaltensevolution Monrepos in Neuwied erklärt, dass die Menschen dort vermutlich erlegten, was sich gerade anbot und jagen ließ: „Die Tierknochen zeigen, dass Neandertaler hier und anderswo ganz opportunistisch vorgegangen sind.“
Fisch statt Fleisch
Wie sehr sich die Neandertaler an das örtliche Nahrungsangebot anpassten, zeigt auch ein Fund aus dem Kaukasus: In dortigen Neandertaler-Höhlen lagen in etwa 45.000 Jahre alten archäologischen Schichten ganze Haufen von Fischgräten. Die Lachse, von denen die Gräten stammten, könnten allerdings auch von ebenfalls vor Ort lebenden Höhlenbären oder Höhlenlöwen verspeist worden sein.
Eine vergleichende Isotopenanalyse aller gefundenen Knochen zeigte jedoch: Die Bären waren Vegetarier, die Löwen jagten pflanzenfressende Tiere. Nach dem Ausschlussverfahren bleibt daher nur noch ein Kandidat als Lachs-Esser übrig: Die Neandertaler dieser Region waren offenbar erfolgreiche Fischer.
Diese Funde zeigen, dass die Neandertaler sich offensichtlich sehr gut an ihre Lebensumstände anzupassen wussten. Sie ernährten sich von dem, was ihr Lebensraum ihnen lieferte – und stellten sich dabei einen durchaus vielseitigen Speiseplan zusammen. Damit dürften sie sich kaum vom Homo sapiens unterschieden haben.
Ansgar Kretschmer
Stand: 13.03.2015