Das Faszinierende an Neurotechnologien ist, dass Menschen und Maschinen in einer Weise zu interagieren beginnen, die man so noch nicht kannte. Auch wenn wir über Prothesen oder verschiedene Körpermodifikationen Erfahrungen mit Selbsttechnisierungen haben, ist doch die direkte Verschaltung von Elektronik und Gehirngewebe eine neue Dimension von Technisierung.
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Wer ist der Verantwortliche?
Und dies betrifft nicht nur Persönlichkeitsveränderungen. Auch die neue Einheit von Mensch und Maschine wird uns vor Herausforderungen stellen. So wird in der Grundlagenforschung daran gearbeitet, Roboterarme zu bauen, die die Bewegungsabsichten von Patienten quasi eigenständig ergänzen und ausführen. Der Computer soll dabei lernen, die Intentionen einer Person zu verstehen. Dadurch „weiß“ die Neuroprothese dann, ob der Patient sich kratzen will oder welchen von zwei Bechern er greifen möchte.
Es wird zwar noch etwas dauern, bis derartige Anwendungen marktfähig werden, aber es ist jetzt schon abzusehen, dass sich unser Begriff von Verantwortung ändern kann, wenn die Intention von Nutzern auf die Maschine übertragen wird. Wer ist verantwortlich, wenn intelligente Neuroprothesen unsere Gehirnaktivität immer eigenständiger interpretieren und umsetzen? Die computergestützte Übersetzung und technische Umsetzung transformiert die Identität des Nutzers, er ist Mensch und Maschine zugleich.
Hier wird man in den nächsten Jahren ethische und rechtliche Rahmenbedingungen erarbeiten müssen, in denen die Verantwortung auf menschlicher und maschineller Seite – inklusive Herstellerseite – geregelt werden kann, damit sich Mensch-Maschine-Komplexe sicher im gesellschaftlichen Alltag bewegen können. Doch haben wir überhaupt die Zeit dazu?
Droht eine Ära der Cyborgs?
Beginnt vielleicht schon jetzt eine gefährliche Transformation des Menschen in ein Mensch-Maschine-Wesen, in einen Cyborg? Cyborgs sind optimierte Mensch-Maschine-Wesen, die das menschliche Sein überschreiten, die Fähigkeiten und Stärken haben, die Menschen normalerweise nicht haben. In den Science-Fiction-Filmen wird das Aufgabenspektrum dieser hochgerüsteten Wesen in vielfältiger Weise durchgespielt. Und ohne Zweifel wird es politische und militärische Interessen an der Entwicklung von Cyborgs geben.
Eine Dystopie – eine negative Entsprechung zur Utopie – neurotechnologisch gesteuerter Maschinenmenschen mag irgendwann eintreffen. Das kann die Medizinethik nicht verhindern. Was die Medizinethik aber jetzt schon kann, ist, aus der genauen Beschreibung der Funktionsweise von Neurotechnologien Vorschläge für Regelungen und Rahmenbedingungen zu formulieren, um dazu beizutragen, dass die direkten technischen Interaktionen mit dem Gehirn so gestaltet werden, dass diese mit unseren Vorstellungen von Mensch- und Personsein zusammenstimmen.
PD Dr. Oliver Müller für bpb.de / CC-by-sa 3.0
Stand: 16.10.2015