Eberhard Bodenschatz war begeistert von der Idee, die unsichtbare Dynamik der Erde nachzuspielen. Er baute seine eigene Apparatur und legte los. Doch obwohl er dasselbe Wachs wie Oldenburg und Brune nutzte, bildeten sich keine Transformstörungen. Beim Auseinanderdriften der beiden Wachsplatten entstand ein Zickzack-Muster.
Bodenschatz war ratlos. Er drehte an den Versuchsparametern, der Vorschubgeschwindigkeit der beiden Wachsschöpfer, der Temperatur des Bades – und baute die Anlage schließlich zusammen mit seinen Studenten bei klirrender Kälte im Freien auf dem Campus auf. „Wir hofften, dass das Experiment mit der gleichmäßigen Wintertemperatur von minus 15 Grad besser funktionieren würde als mit dem Lüfter“, sagt Bodenschatz lächelnd, „aber es blieb dabei – keine Transformstörungen.“
Die Lösung des Problems war schließlich einfacher als erwartet: Bodenschatz rief bei der Firma Shell an, dem Hersteller des Wachses. Und die klärte ihn auf. Beim natürlichen Wachs ist es ähnlich wie beim Wein. Die Eigenschaften hängen vom Anbaugebiet ab, beim Wachs von der Ölquelle. So finden sich in jedem Öl andere Kombinationen von Kohlenwasserstoffketten. Die Quellen aber versiegen im Laufe der Zeit. Und genau das war in der Zwischenzeit geschehen. In den 20 Jahren hatte sich also die Zusammensetzung des Wachses verändert.
Shell schickte Bodenschatz eine neue, synthetische, also von der Ölquelle unabhängige Wachsprobe, die dem Wachs aus den 1970er-Jahren ähnlich war. Prompt klappte das Experiment. Beim Auseinanderdriften bildeten sich Transformstörungen – gerade so, wie sie sich auf dem Meeresboden zeigen. Inzwischen hat der Forscher noch eine Reihe weiterer Phänomene entdeckt, die Oldenburg und Brune damals nicht beobachtet hatten.
Verblüffende Analogien zur Natur
Bodenschatz weiß, dass sich sein Experiment nicht eins zu eins auf die Lithosphäre übertragen lässt. Denn die Kräfte in der Erdkruste sind aufgrund der großen Masse natürlich viel stärker als beim Wachs. Allerdings ist die Dichte von Wachs und Magma recht ähnlich. Und auch die mechanischen Eigenschaften gleichen sich. Bodenschatz ist derzeit dabei, diese Eigenschaften des schmelzenden Waches genau zu messen, und geht davon aus, dass sich sein Modell letztlich doch hochskalieren und auf den realen Maßstab übertragen lässt. Selbst wenn das nicht gelingen sollte, sagt er, sind die Analogien zur Natur verblüffend.
Wollte man die Vorgänge in der Erdkruste nachrechnen, müsste man einen Supercomputer monatelang laufen lassen. Das würde Millionen Euro kosten. Und selbst dann wäre es fraglich, ob sich die Bewegungen ähnlich realistisch darstellen ließen. Denn sowohl das Wachsmodell als auch Mutter Erde haben es, physikalisch betrachtet, in sich. Immerhin stoßen hier vier physikalische Bereiche zusammen, die jeder für sich bereits ausgesprochen komplex sind.
Zum einen ist das die Fluiddynamik, welche die Bewegung von Flüssigkeiten beschreibt – eine mathematisch recht anspruchsvolle Disziplin. Ferner spielt die Elastizität eine Rolle. Auch hier geht es um Bewegungen: die Verformung eines Körpers und das Zurückschnellen in die ursprüngliche Gestalt.
Die Berechnung eines hüpfenden Flummis ist bereits eine echte Herausforderung – erst recht aber die Verformung der Erdkruste. Hinzu kommt das Bruchverhalten des Gesteins – ebenfalls ein komplexes Phänomen. Ein Bruch beginnt nämlich auf mikroskopischer Skala im Molekülgitter und setzt sich beim Mittelozeanischen Rücken bis zum globalen Maßstab fort.
Die vierte Herausforderung ist schließlich die Verfestigung von Magma, ein Phänomen, das sich ebenfalls kaum fassen lässt. „Da ist unsere Lösung vergleichsweise elegant“, sagt Bodenschatz. Mit dieser Meinung steht der Forscher nicht allein.
Stand: 28.04.2006