Während viele Seismologen es aufgegeben haben, Zeit und den Ort eines Erdbebens exakt vorhersagen zu wollen, galt die Langzeitprognose, die auf der Abschätzung des Erdbebenrisikos an einem bestimmten Ort basiert, bislang immer als relativ verläßlich. Grundlage aller Risikoeinschätzungen war dabei die Annahme, dass die Wahrscheinlichkeit eines großen Bebens an einer Störungsstelle umso größer wird, je mehr Zeit ohne Erdbeben verstreicht. Die durch die Bewegung der Kontinentalplatten entstehende Spannung baut sich langsam auf und entlädt sich dann plötzlich und ruckweise, wenn zum Beispiel ein bestimmter Grenzwert erreicht wird.
Mit Hilfe von geologischen Methoden, wie der Datierung von alten Verwerfungen durch die Radiokarbonmethode, versuchen Seismologen, aus der zeitlichen Abfolge von Erdbeben an einer bestimmten Stelle, auf die Wiederkehrperioden des Bebens zu schließen. So konnte man beispielsweise für die Tanawa-Verwerfung südwestlich von Tokio eine Wiederholungsrate von etwa 700 plus/minus 80 Jahren ermitteln. Die Voraussetzung für eine solche Berechnung ist allerdings das Vorhandensein von genügend detaillierten Informationen über die Bebengeschichte eines Gebiets, wie sie zum Beispiel für das kalifornische San Andreas Grabensystem vorliegen.
Eine Analyse der Geophysiker Didier Sornette und Leon Knopoff von der University of California könnte diesen Ansatz jetzt in ein völlig neues Licht rücken. Ihre Ergebnisse beruhen auf der Anwendung des BayesschenTheorems, das zeigt, wie die Wahrscheinlichkeit eines zukünftigen Ereignisses von vergangenen Ereignissen beeinflußt wird. Genauer unter die Lupe nahmen die beiden Forscher dabei vor allem die Fluktuationen in den Intervallen zwischen Erdbeben. Es zeigte sich, dass die Erdbebenwahrscheinlichkeit keineswegs mit der Zeit ansteigen muß, sie kann auch gleichbleiben oder sogar abnehmen.
In einigen Gebieten treten kleinere Erdbeben annähernd periodisch auf, dort entspricht die Wahrscheinlichkeitsdichte zwischen den Beben einer einfachen ansteigenden Funktion der Zeit. Es gibt aber auch Fälle, in denen die Wahrscheinlichkeit eher einer Poisson-Verteilung folgt. Nach der Analyse von Sornette und Knopoff soll die Möglichkeit eines neuen Bebens in diesem Fall völlig unabhängig vom Zeitpunkt des letzten Bebens konstant bleiben.
Andere von den beiden Geophysikern berechnete Wahrscheinlichkeitsdichten scheinen darauf hinzudeuten, dass das Erdbebenrisiko sogar mit der Zeit abnehmen kann. Eine solche logarithmische Verteilung soll zum Beispiel auf das erdbebengefährdete Südkalifornien zutreffen. Die Forscher vermuten, dass dieses Phänomen besonders in Regionen auftritt, in denen die Bewegungen vieler tektonischer Störungen einander beeinflussen. Nimmt an einer Stelle eines solchen ausgedehnten Grabensystems die Spannung durch ein Beben plötzlich ab, kann an einer anderen Stelle die Spannung im Gestein ansteigen und sich dadurch das Erdbebenrisiko deutlich erhöhen. Vorherige Wahrscheinlichkeitsberechnungen für das entsprechende Gebiet treffen damit nicht mehr zu.
Beide Wissenschaftler betonen, dass die Berechnung der Wahrscheinlichkeitsdichten extrem anfällig für Fehlkalkulationen ist. Einem bestimmten Bebengebiet zu einer bestimmten Zeit die richtige Wahrscheinlichkeit zuzuordnen sei sehr schwierig, die Chance, richtig zu liegen steige aber, je mehr Zeiten und Orte mit Hilfe dieser Methode analysiert worden seien.