Neurowissenschaften

Mehr als eine Lücke im Gedächtnis

Warum vergessen wir überhaupt?

Vergessen ist negativ konnotiert und gilt als Fehlleistung des Gehirns. Dabei ist der Prozess bei dem wir bestimmte Erinnerungen verlieren, eher ein Segen. Die Filterung von Erlebnissen, denen ein Platz im Kurz- oder Langzeitgedächtnis eingeräumt wird, hilft uns, im Alltag zurecht zu kommen und schützt uns vor den Nachwirkungen schmerzhafter Erlebnisse.

Neuronen-Verband
Gemeinsame Aktivitäten von Neuronen-Verbänden nehmen wir als Erinnerung wahr. © XH4D / GettyImages

Vergessen ist effizient

Jede Sekunde unseres Lebens strömen Unmengen an Informationen durch unser Gehirn, doch glücklicherweise vergessen wir das meiste davon sofort wieder. „Die Speicherkapazitäten unseres Gehirns per se sind riesig. Aber wenn uns in jedem Moment unseres Lebens zu einem Ereignis alles einfallen würde, was wir je damit in Verbindung bringen würden, dann wären wir nicht handlungsfähig“, erklärt Hirnforscher Martin Korte von der Universität Braunschweig.

Das Gedächtnis ist also nicht darauf ausgerichtet, so viele Informationen wie möglich zu speichern, sondern nur gerade so viele wie es braucht, um eine Entscheidung in angemessener Zeit treffen zu können. Wenn wir zum Beispiel auf die Straße laufen und ein Auto auf uns zu rast, sollten wir nicht über die rote Lackfarbe und daran, dass uns das an Erdbeermarmelade erinnert, denken, sondern wir sollten uns primär darum kümmern, heil auf die andere Straßenseite zu kommen.

Da unser Gehirn die gesamte Flut an Eindrücken niemals vollständig verarbeiten und einordnen könnte, wird stattdessen vieles davon gefiltert und nicht tiefer verarbeitet. Das, was nach diesem Filterprozess übrigbleibt, erleben wir dann als Erinnerung. Dies verkürzt Informationswege und lässt uns wichtige Daten schneller aus dem Gedächtnis abrufen. Außerdem garantiert diese Selektion, dass nur wichtige und hochwertige Erinnerungen abgespeichert werden. Für das Gehirn kommt also Qualität vor Quantität.

Achtung: Gehirn überfordert

Der Effekt eines solchen Filterprozesses begegnet uns auch häufig bei Kennenlern-Situationen. Wir schütteln Hände mit dem Unbekannten, stellen uns vor und lächeln uns an. Aber Moment – wie hieß unser Gegenüber noch gleich? In dieser Situation ist unser Gehirn so damit beschäftigt unsere Bewegungen und das, was wir sagen wollen, zu koordinieren, dass wir den gehörten Namen direkt wieder vergessen. Ist man zusätzlich etwas aufgeregt, kann dies den Effekt sogar noch verstärken.

Gehirn
Ist unser Gehirn überfordert, haben wir manchmal Aussetzer. © SebastianKaulitzki / iStock.com

Aber was ordnet unser Gehirn als relevant ein und was nicht? Wir behalten offenbar vor allem Informationen, die Bezugspunkte zu unserer Persönlichkeit, aber auch zu bereits vorhandenem Wissen haben. Wenn uns etwa jemand erzählt, er sei Bäcker, können wir uns das um Längen besser merken, weil wir uns die Tätigkeit vorstellen können, als wenn die Person von Beruf „Data Warehouse Analyst“ wäre – ein Begriff, mit dem die meisten eben nichts verbinden.

Vergessen ist Eigenschutz

Doch das Vergessen ist nicht nur wichtig zur Informationsverarbeitung, sondern schützt uns auch davor, traumatische Erlebnisse immer und immer wieder durchleben zu müssen. Ob negative Erfahrung oder schwerwiegende Traumata – um uns von ihnen zu lösen, müssen wir sie vergessen können. Das Verblassen der negativen Erinnerungen hilft uns dabei, unsere eigene Identität neu zu formen und führt zu mehr Selbstakzeptanz.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Die Macht des Vergessens
Warum ist vergessen zu können so wichtig für uns?

Die Neurobiologie des Vergessens
Vergessen und Erinnern sind eng verknüpft

Mehr als eine Lücke im Gedächtnis
Warum vergessen wir überhaupt?

Manche Menschen vergessen alles…
Wenn das Vergessen zur Krankheit wird

…und manche Menschen vergessen nie etwas
Niemals vergessen: Fluch oder Segen?

Können wir aktiv vergessen?
Trainieren des eigenen Gedankenkarussells

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