Myonen sind nicht nur schwerer als Elektronen, sie haben auch eine weit höhere Durchschlagskraft. Wegen ihrer hohen Energie und Masse können sie Materie leichter und ungehinderter durchdringen als ihre leichteren „Brüder“. Genau dies macht die ständig auf uns hinabregnenden Teilchen nützlich: Mit ihnen können wir weit tiefer in Objekte hineinsehen als beispielsweise mit Röntgenstrahlen.
„Myonen können hunderte Meter Fels durchdringen und sind daher ein vielseitig einsetzbares Mittel, um die Zusammensetzung und Struktur von Materialien zu verstehen, die für uns sonst undurchdringbar wären“, erklärt Ian Swainson von der Internationalen Atomenergie-Organisation IAEA.
Doch was bestimmt, wie tief ein Myon eindringen kann? Ähnlich wie bei der Röntgenstrahlung ist die Dichte des Materials und im Speziellen seine Elektronendichte der wichtigste Faktor. Denn die Myonen verlieren bei ihrer Passage immer dann Energie, wenn sie mit den Elektronenhüllen der Atome interagieren. „Es kommt zum Transfer von Energie auf die Elektronen der äußeren Atomschalen, durch die diese angeregt oder ionisiert werden“, erklärt Alex Amato von der Universität Zürich. „Ein energiereiches Teilchen wie das Myon verliert bei jeder dieser Kollisionen aber nur einen winzigen Bruchteil seiner Energie.“
Dadurch kann ein Myon selbst massives Gestein, Mauerwerk oder auch Bleiwände durchdringen – aber auch verraten, was sich hinter diesen Barrieren verbirgt. Gibt es weniger massive Materialien oder auch Hohlräume, reicht die Energie der Myonen weiter und sie zerfallen erst nach ihrer Passage durch die Struktur. Ist ein Fels dagegen massiv, verlieren sie in ihm so viel Energie, dass sie feststecken und vor Ort zerfallen. Weil man weiß, wie viel Energie das mit rund vier Gigaelektronenvolt eintreffende Myon verliert – rund 0,2 Gigaelektronenvolt pro Meter Wasseräquivalent – kann man auch Rückschlüsse auf die Art des Materials ziehen.
Diese Durchschlagskraft macht die Myonen zu einem vielseitigen Werkzeug. Durch Verfahren wie die Myonen-Radiografie und die Myonen-Tomografie können sie dabei helfen, verborgene Strukturen zu enthüllen. „In gewisser Weise funktioniert die Myonen-Bildgebung ähnlich wie das Röntgen oder die Gammastrahlendurchleuchtung in der Materialforschung“, erklärt IAEA-Forscher Andrea Giammanco von der Katholischen Universität Louvain. „Nur dass wir keine künstlichen Strahlenquellen benötigten: Die Myonen-Bildgebung nutzt die Teilchen, die ohnehin auf uns hinabregnen.“
Erste Versuche, Myonen zur Durchleuchtung zu nutzen, gab es schon in den 1950er Jahren: Der britische Physiker Eric George stellte einen Detektor in einem Tunnel unter den australischen Snowy Mountains auf, um die darüberliegende Felsbedeckung zu untersuchen. Durch Vergleich mit den Myonenspuren eines unter freiem Himmel auf gleicher Höhe stehenden Detektors konnte er ermitteln, wie massiv und dick das Gestein über dem Tunnel sein musste.
Als Detektoren für die Myonen-Bildgebung dienten früher simple Geigerzähler oder Szintillatoren – Funkenkammern, in denen Photodetektoren die winzigen Lichtblitze aufzeichnen, die angeregte Elektronen bei Kollisionen mit Myonen abgeben. Heute kommen auch Platten mit einer speziellen Emulsion zum Einsatz, die die Spuren aufzeichnen sowie Detektoren, die die von Myonen aus einem Gas herausgeschlagenen oder angeregten Elektronen analog oder digital registrieren.
Die einfachste Form der Myonen-Bildgebung ist die Transmissions-Radiografie. „Sie ist die Methode der Wahl, wenn es unmöglich oder unpraktisch ist, die Bahnen der Myonen vor und nach dem untersuchten Objekt zu vergleichen“, erklären Giammanco und seine Kollegen. Denn gemessen wird nur die Absorptionsrate der durch das Objekt oder Material fliegenden Myonen. Im Prinzip genügen dabei zwei Detektoren – einer unter dem Untersuchungsobjekt, einer außerhalb. Allerdings dauert es relativ lange, bis genügend Myonen detektiert sind, um Hohlräume und Ähnliches zu enthüllen. Myografie-Messungen dauern daher mehrere Tage bis Wochen.
Dafür kann diese Methode selbst bei sehr großen Objekten genutzt werden – beispielsweise, um in Vulkane und andere Berge hineinzuschauen. In einem dieser Projekte hat ein Team um Domenico Lo Presti von der Universität Catania einen Myonendetektor in einer Hangnische des aktiven Vulkans Ätna aufgestellt, um den oberen Bereich des Vulkanschlots zu durchleuchten. „2017 konnten wir noch vor dem Kollaps des Kratergrunds dort einen Hohlraum entdecken“, berichten die Forscher. „2018 identifizierten wir mehrere Risse in Untergrund, an deren Spitze im Juni 2019 ein neuer, explosives Ausbruchsereignis begann.“ Auch andere Vulkane wurden bereits mittels Myonen-Radiografie durchleuchtet. In den Alpen haben Geologen Myonendetektoren dazu genutzt, um die Dicke und das Bett von großen Gletschern wie dem Aletschgletscher und dem Eigergletscher zu untersuchen.
Doch auch für menschengemachte Strukturen oder bei großen Bauvorhaben kommt die Myonen-Bildgebung zum Einsatz. Im Jahr 2018 setzte ein britisches Forschungsteam Myonendetektoren ein, um unerkannte Bahntunnel aus der viktorianischen Ära aufzuspüren. Weil diese 100 bis 150 Jahre alten Tunnel heute baufällig sind, kommt es immer wieder zu Einstürzen, durch die Gebäude, Straßen und andere Infrastruktur an der Erdoberfläche plötzlich absacken und beschädigt werden. Tatsächlich entdeckte das Team im Vorfeld von Bauarbeiten an einem neuen Straßentunnel einen solchen alten Hohlraum. Auch beim Bau einer neuen U-Bahn-Linie in Paris wurden testhalber Myonendetektoren in die Tunnelbohrmaschine integriert.
Und auch in Atomkraftwerken kommt die Myonen-Bildgebung zum Einsatz, beispielsweise nach dem Atomunglück von Fukushima im Jahr 2011. Nach dem Ausfall der Kühlung und schweren Schäden durch ein Erdbeben mit Tsunami war das Innere der Reaktoren tödlich verstrahlt – ein Zugang war über Jahre hinaus unmöglich. Um herauszufinden, wie der Reaktorkern aussah und ob eine Kernschmelze stattgefunden hatte, ließ der Betreiber Tepco im Jahr 2015 zwei spezielle Myonen-Detektoren konstruieren: 20 Tonnen schwer und durch eine zehn Zentimeter dicke Stahlumhüllung geschützt, zeichneten die Detektoren über fünf Monate hinweg auf.
Das Ergebnis: In den Aufnahmen fehlte jede Spur des Myonen absorbierenden Brennstoffblocks. Dies verriet, dass der Kernbrennstoff geschmolzen und am Boden des Reaktors verteilt haben musste – die gefürchtete Kernschmelze war eingetreten.
Allerdings hat die Durchleuchtung mittels Myonen-Absorption ihre Grenzen: Sie kann zwar große Objekte scannen, zeigt aber deren Inneres nur sehr grob und ungenau. Feinere Strukturen sind auf den stark verrauschten und niedrig aufgelösten Aufnahmen nicht zu erkennen. Doch auch dafür gibt es eine Myonen-basierte Methode…