Heute wissen wir, dass unser genetisches Erbe sogar eine riesige Zahl von Kopien endogener Retroviren enthält. 8,5 Prozent unseres Genoms machen diese humanen ERVs, kurz HERVs, aus. Wissenschaftler haben unter ihnen bereits über 30 verschiedene HERV-Familien mit zusammen mehr als 200 unterschiedlichen Gruppen und Untergruppen identifiziert. Damit ist ihr Anteil weitaus größer als der der proteinkodierenden Gene, die doch vermeintlich unser Menschsein ausmachen sollen.
„Der nüchterne Blick der modernen Sequenziertechnik hatte also ein Paradox ans Licht gebracht“, kommentiert der Buchautor Frank Ryan. „Die Antwort auf die Frage, welcher Teil unseres Jahrmillionen alten evolutionären Erbes uns eigentlich zu Menschen macht, lag in ihrer ganzen ungeheuerlichen Nacktheit vor uns – aber wir waren nicht imstande zu begreifen, was wir da sahen.“
LINEs und SINEs
Der Überraschungen nicht genug, identifizierten die Wissenschaftler weitere Bestandteile im menschlichen Genom, die möglicherweise ebenfalls viralen Ursprungs sind: Die so genannten LINE und SINE-Sequenzen (long und short interspersed nuclear elements) könnten nach Ansicht einiger Forscher, darunter auch des Virologen Luis Villarreal Bruchstücke früherer Retrovirengene sein. Ihr Anteil liegt bei 21 beziehungsweise 13 Prozent.
„Noch häufiger [als endogene Retroviren] sind Abkömmlinge der ERVs“, erklärt Villarreal in seinem Aufsatz „Can Viruses make us human?“. „So haben beispielsweise menschliche LINEs einige Sequenzen des HERV-Gens pol beibehalten, während humane SINEs Sequenzen der LTR und env-Abfolgen enthalten.“
Viren als Evolutionsbegleiter
„Mindestens 43 Prozent des bekannten Humangenoms wären demnach Viren oder unmittelbar von ihnen abgeleitete Einheiten“, so Ryan. „Die Implikationen sind geradezu erschütternd: Wir blicken auf eine ausgedehnte Serie von Kolonisierungen durch exogene Retroviren zurück, verteilt über die etwa 100 Millionen Jahre unserer Säugetierevolution.“ Anhand von Vergleichen der retroviralen Sequenzen in unserem Genom mit denen naher und entfernter verwandter Tierarten lässt sich ermitteln, wann ungefähr diese Endogenisierungen stattgefunden haben müssen.
So tragen beispielsweise auch viele Menschenaffen und Altweltaffen das ERV3 in sich – für die Forscher ein Hinweis darauf, dass sich das Virus schon vor mindestens 30 bis 40 Millionen Jahren, vor der Trennung der Abstammungslinien von Affen und Menschenaffen in das Primatenerbgut integriert haben muss. Andere endogene Retroviren dagegen, wie ein Großteil der so genannten HERV-K-Untergruppen, scheinen unsere artspezifischen viralen Partner zu sein, sie kommen ausschließlich beim Menschen vor.
Auffallend ist allerdings eines: Obwohl Viren normalerweise zu den am schnellsten mutierenden Organismen auf der Erde gehören, scheinen die Sequenzen endogener Retroviren erstaunlich gut konserviert zu werden. Normalerweise aber deutet eine lange Zeit unveränderte Sequenz immer darauf hin, dass das betreffende Gen vom Organismus gebraucht wird, eine nützliche Funktion erfüllt.
Das allerdings wirft eine entscheidende Frage auf: Was genau tun die endogenen Retroviren eigentlich in unserem Erbgut? Tun sie überhaupt irgendetwas?
Nadja Podbregar
Stand: 05.11.2010