Neurowissenschaften

Mein entstelltes Ich

Wenn der Spiegel lügt

Magersucht verzerrte Wahrnehmung
Menschen mit Magersucht nehmen sich selbst als deutlich fülliger wahr als sie es tatsächlich sind. © bowie15/ iStock

Neben einer verzerrten Wahrnehmung des eigenen Charakters kann es auch vorkommen, dass Menschen ihr Äußeres völlig falsch einschätzen. Das ist zum Beispiel bei denjenigen der Fall, die an einer Magersucht (Anorexie) oder Ess-Brech-Sucht (Bulimie) leiden. Studien haben gezeigt, dass Betroffene ihren eigenen Körper viel umfangreicher und unattraktiver wahrnehmen, als er tatsächlich ist.

Verschobenes Körpergefühl

„42 Kilo bei einer Größe von 1,70 Meter kamen mir nicht zu wenig vor, beziehungsweise empfand ich es nicht als schlimm oder dramatisch. Mein Körpergefühl und meine Wahrnehmung waren vollkommen verschoben“, berichtet zum Beispiel die ehemals magersüchtige Simone, die ihre Essstörung mittlerweile überwunden hat, auf der Website des ANAD-Zentrums der Arbeiterwohlfahrt.

Die Wissenschaft geht davon aus, dass bei magersüchtigen Menschen das sogenannte Körperschema gestört ist, also das unbewusste mentale Bild des eigenen Körpers. Das Körperschema hilft uns dabei, unseren eigenen Körper im Raum wahrzunehmen und abzuschätzen, wie viel breiter wir zum Beispiel mit prallem Rucksack oder ausladendem Sonnenhut sind.

Magersüchtige bekommen von ihrem Körperschema jedoch durchgehend vermittelt, dass ihr Körper deutlich größere Ausmaße hat, als dies eigentlich der Fall ist. So gehen sie in Experimenten zum Beispiel deutlich schneller seitlich durch einen schmalen Türrahmen als nicht essgestörte Personen, weil sie unterbewusst denken, sie würden frontal nicht hindurchpassen.

Magersucht
Um gesund zu werden, müssen Magersüchtige Schritt für Schritt wieder ein realistisches Körpergefühl erlernen. © Katarzyna Bialasiewicz/ Getty Images

Verbindungsfehler bewirken Verzerrung

Diese veränderte Selbstwahrnehmung zeigt sich auch im Gehirn von magersüchtigen Menschen. Zwei Hirnareale, die für die Verarbeitung von Körperbildern wichtig sind, weisen bei ihnen eine geringere Zelldichte auf als bei gesunden Personen und sind außerdem weniger stark miteinander verknüpft. Je stärker dieser Verbindungsfehler ausfällt, als desto dicker empfinden sich Betroffene, wie Studien ergeben haben.

Um diese Fehlfunktion zu beheben, muss der Körper wieder lernen, seine eigenen Ausmaße korrekt einzuschätzen. Daher besteht ein Therapieansatz darin, magersüchtige Patienten für bestimmte Zeiträume einen eng anliegenden Neoprenanzug tragen zu lassen. Der Druck auf Haut und Gelenke soll dem Gehirn dann aktualisierte Informationen darüber liefern, wo der Körper tatsächlich endet.

Dysmorphophobie
Von Dysmorphophobie Betroffene sehen sich selbst im Spiegel völlig anders. © Chainwit./CC-by 3.0

Manipulierte Spiegel

Eine andere Form der verzerrten Körperwahrnehmung ist die sogenannte körperdysmorphe Störung oder Dysmorphophobie. Betroffene verbringen täglich mehrere Stunden damit, über vermeintliche Makel wie eine zu krumme Nase oder eine auffällige Narbe zu grübeln. „Selbst wenn sie körperlich gut aussehen, gaukelt ihnen ihr Gehirn vor, dass mit ihrem Aussehen etwas nicht stimmt. Mit anderen Worten: Sie sehen nicht die Realität ihres Aussehens, sondern nur eine verzerrte Version davon“, beschreibt es der Psychologe Hanan Parvez in seinem Blog „PsychMechanics“.

Die Angst, andere könnten die vermeintlichen Makel als ebenso entstellend wahrnehmen, veranlasst Betroffene dazu, die Unvollkommenheiten mit Kleidung, Bartwuchs oder Make-up zu kaschieren, sich kosmetischen und chirurgischen Eingriffen zu unterziehen oder die Öffentlichkeit so gut es geht zu meiden.

Auch wenn es für Außenstehende so wirken mag, als würden Menschen mit Dysmorphophobie ihr Aussehen einfach nur überdramatisieren, sind die vermeintlichen Makel für Betroffene dennoch real. Indem sie sich immer und immer wieder auf dieselben Unvollkommenheiten konzentrieren, erscheinen diese mit der Zeit immer enormer und entstellender.

Serotonin und Schönheitsideale

Was genau eine Dysmorphophobie auslöst, ist noch nicht abschließend geklärt. Forschende haben aber Hinweise darauf gefunden, dass Betroffene visuelle Informationen womöglich anders verarbeiten als gesunde Menschen. Auch scheint bei Menschen mit Dysmorphophobie ein chemisches Ungleichgewicht beim Neurotransmitter Serotonin zu bestehen, ähnlich wie bei depressiven Personen.

Daher schlagen bei Dysmorphophobie-Patienten in der Regel auch Antidepressiva gut an – ergänzt durch eine kognitive Verhaltenstherapie, in der sie eine realistischere Selbstwahrnehmung lernen. Neben biologischen Ursachen weisen Experten aber auch darauf hin, den Stellenwert gesellschaftlicher Erwartungen nicht außer Acht zu lassen. Wenn man das Gefühl hat, gängigen Schönheitsidealen nicht zu entsprechen, kann das der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper gefährliche Ausmaße verleihen.

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Das verzerrte Ich
Wenn unser Selbstbild von der Realität abweicht

Der Realität auf der Spur
Unsere eigene Wahrnehmung als Zerrlinse

Ich und die anderen
Wieso wir uns oft überschätzen

„Ich bin nicht gut genug“
Folgen eines negativen Selbstbilds

Mein entstelltes Ich
Wenn der Spiegel lügt

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