Aber noch hat meine Oma nicht ganz aufgegeben: „Naja, aber was ist, wenn deine Daten in falsche Hände geraten? Vielleicht bekommst du dann keinen Job oder wirst nicht mehr versichert. Und überhaupt, du hattest doch auch Geschichte in der Schule, das hatten wir doch schon mal, dass Menschen ausgegrenzt und verfolgt wurden, weil sie angeblich minderwertiges Erbgut hatten. Spielst du damit nicht irgendwelchen Ewiggestrigen in die Hände, die von der perfekten menschlichen Rasse träumen?“ fragt mich meine Oma, nun siegesgewiss.
Viele Menschen hatten ursprünglich Bedenken, dass mit den genomischen Daten der Patienten Missbrauch getrieben werden würde. Filmemacher und Schriftsteller entwarfen düstere Zukunftsvisionen einer Zweiklassengesellschaft, in der nur die erfolgreich sein konnten, deren Eltern darauf geachtet hatten, nur die Kinder mit den besten Genen zu bekommen. Gataca, ein Film, in dem bereits im letzten Jahrhundert vor Gefahren der Genanalyse und -technik gewarnt wurde, erlebte eine Renaissance und wurde zum Klassiker. Einige trauen der neuen Technik immer noch nicht. Kein Gesetz zwingt sie, einen virtuellen Doppelgänger anzulegen oder sich präventiv behandeln zu lassen.
Meinen Hodenkrebs damals habe ich auch nicht präventiv behandeln lassen, da ich noch ein wenig skeptisch war. Aber der Computer sollte damals leider Recht behalten. Glücklicherweise auch später bei der Wahl der richtigen Medikamente für die Behandlung des Hodenkrebs. Und wie es sich gezeigt hat, sind die Prognosen des virtuellen Patienten meist richtig sind. Daher kenne ich mittlerweile unter meinen Freunden niemanden, der sich nicht präventiv behandeln lässt, wenn sein virtueller Patient eine Erkrankung vorhersagt.
Die meisten aber sehen ihre Daten so gut gesichert wie den Zugang zu ihrem Bankkonto. Sogar doppelt so sicher. Denn Ethikkommissionen haben gemeinsam mit der Politik sichergestellt, dass die gespeicherten Daten lediglich den Personen und deren behandelnden Ärzten zugänglich sind: wenn nicht Arzt und Patient gleichzeitig ihren Code eingeben sind die Daten nicht lesbar. Die elektronische Gesundheitskarte, die zu Zeiten meiner Oma eingeführt wurde, diente als Vorbild. „Und außerdem, wenn jemand wissen will, ob ich Mumps hatte, als ich klein war, kann er sich auch meine Kinderfotos auf Facebook ansehen.“ Meine Großmutter lacht: „Ja, du hast ausgesehen wie ein Hamster!“
„So Oma, jetzt muss ich aber los. Meine Freundin wartet mit dem Essen auf mich“, sage ich und stehe vom Tisch auf, um mich zu verabschieden. Dabei stoße ich mit meinem Kopf an den Leuchter meiner Oma. Tut verdammt weh. „Kann der Computer das etwa nicht verhindern?“ fragt sie schadenfroh. Nein, kann er leider nicht, wird er wohl auch nie können. Man wird wohl immer ein wenig selbstverantwortlich handeln müssen. Schade eigentlich.
Alexander Kühn /MPI für molekulare Genetik
Stand: 27.04.2012