Medizin

Migränegenerator und Co.

Schwelbrand im Hirnstamm oder Übererregbarkeit der Hirnrinde?

Ob Blutgefäße, Botenstoff oder gehemmte Gehirnzellen – bis Mitte der 1990er Jahre gibt es bereits mehrere alternative Erklärungen für den Auslöse-Mechanismus einer Migräneattacke. Und es wird noch unübersichtlicher:

Migränegenerator als „Schwelbrand“ im Hirnstamm?

Im Jahr 1995 stößt ein Neurologenteam um Christophe Dienervon der Universität Essen in Aufnahmen des Gehirns mittels Positronenemissions-Tomografie (PET) auf ein ungewöhnliches Phänomen: Während einer akuten Attacke zeigt sich bei Migränikern im oberen Teil des Hirnstamms ein besonders gut durchbluteter Bereich. Andere Mediziner beobachten, dass dieser Bereich selbst dann aktiv bleibt, wenn die Migräneschmerzen durch Schmerzmittel unterdrückt werden. Aus Tierversuchen ist bekannt, dass an dieser Stelle des Hirnstamms Nervenkerne liegen, die die Schmerzempfindung und Schmerzhemmung zentral kontrollieren.

Sitzt der Migränegenerator im Hirnstamm (rot)? © CC-by-sa 2.1 jp

Die Forscher schließen daher, dass diese Kontrolle bei Migränikern gestört ist und damit als „Migränegenerator“ wirkt. Wie ein Brandherd „schwelt“ er quasi im Untergrund weiter, auch wenn das oberflächliche – symptomatische – Feuer gelöscht wird. Dieses Schwelen könnte auch erklären, warum manchmal nach Abklingen der Migränemittel der Schmerz wiederkehrt oder warum es Fälle gibt, in denen die Migräneattacke zum Dauerzustand wird. Wie allerdings dieser Migränegenerator mit den anderen Faktoren zusammenwirkt, ist unklar.

Anormale Erregbarkeit auch zwischen den Anfällen

Unklar bleibt auch, wie dieser Generator mit mehreren Studien zu vereinbaren ist, nach denen nicht der Hirnstamm, sondern die Hirnrinde bei Migränikern die Quelle anormaler Aktivität ist. So zeigt sich unter anderem, dass Migränepatienten verstärkt auf bestimmte visuelle Reize reagieren und sich damit sogar Auren oder Schmerzattacken auslösen lassen. In Versuchen mit der so genannten transkraniellen Stimulation, bei der die Gehirnaktivität mit Hilfe von Magnetfeldern beeinflusst wird, stellen gleich drei Forschergruppen im Jahr 2002 eine deutlich gesenkte Reizschwelle und eine Übererregbarkeit der Hirnrinde fest.

Interessanterweise sind diese überschießenden Reaktionen nicht etwa während der akuten Anfälle besonders ausgeprägt, sondern dazwischen, in den Phasen der scheinbaren Normalität. „Wenn man Menschen mit Migräne einen leichten Schock oder Nadelstich verpasst, bekommt man normalerweise, was wir den Wimpernschlageffekt nennen“, erklärt Kathleen Merikangas von der Yale Universität. „Sie sind unfähig, das Blinzeln in Reaktion auf den Reiz zu unterdrücken, während die meisten Nicht-Migräniker damit keinerlei Probleme haben.“

Die Netzwerk-Kommunikation ist bei Migränikern höher - auch zwischen den Anfällen © NIH / NIA

Mehr Kommunikation im Netzwerk

Bestätigt wird dies im Juni 2010 durch ein Forscherteam der Universität von Kalifornien in San Francisco und der Technischen Universität München. Auch sie entdecken, dass Migräniker nicht nur während eines Anfalls „anders ticken“ als ihre gesunden Mitmenschen, sondern auch in der scheinbar symptomfreien Zeit dazwischen. In ihrer Vergleichsstudie finden sie bei den Migränikern eine deutlich erhöhte Netzwerkaktivität in den auditorischen, visuellen und sensorisch-motorischen Schaltkreisen des Gehirns. Die Nervenzellen dort kommunizieren bei Migränepatienten offenbar grundsätzlich intensiver miteinander als bei anderen.

„Es gab zunehmend Hinweise darauf, dass die Verarbeitung und Wahrnehmung von sensorischen Reizen auch außerhalb der Migräneanfälle anormal ist“, erklärt Till Sprenger vom Klinikum rechts der Isar in München. „Jetzt bestätigen unsere Ergebnisse, dass die anormale Gehirnaktivität bei Migränikern tatsächlich nicht auf die Anfälle beschränkt ist, sondern dass es eine umfangreiche Veränderung der funktionellen Konnektivität in zahlreichen Vernetzungen gibt, die den Migräne-Phänotyp widerspiegeln. Das unterstreicht, dass Migräne eine Störung des Gehirns ist.“

Die beobachteten Abweichungen in der Hirnaktivität erklären, warum Migräniker so anfällig gegenüber spontanen Anfällen sind und so sensibel auf zahllose äußerliche und innere Auslösefaktoren reagieren. „Diese Erkenntnis wurde schon seit einiger Zeit vorhergesehen, sie ist absolut fundamental für unser Verständnis der Migräne“, erklärt David Dodick, Präsident der American Headache Society. „Das könnte auch die anhaltenden Kopfschmerzen bei einigen Betroffenen erklären, ebenso wie die Persistenz von Symptomen wie der Lichtempfindlichkeit zwischen den Schmerzattacken.“

Auch wenn die Verbindungen zwischen den verschiedenen Phänomenen bis heute unklar sind, so kristallisiert sich doch eines immer klarer heraus: Die Migräne ist nicht einfach eine episodisch aufflammende Krankheit, sondern beruht vielmehr auf einer dauerhaften, grundlegenden Veränderung des Gehirns. Oder, wie es Erich Kästner 1931 in seinem Buch „Pünktchen und Anton“ beschreibt: „Migräne sind Kopfschmerzen, auch wenn man keine hat.“

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Nadja Podbregar
Stand: 04.03.2011

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Inhalt des Dossiers

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