Die Wissenschaft beginnt gerade erst, das Phänomen der Aphantasie zu erforschen und zu verstehen. Dass es sich dabei nicht nur um graduelle Unterschiede in der Vorstellungskraft handelt, sondern um einen Totalausfall, beschrieb der Hirnforscher Adam Zeman von der University of Exeter erstmals im Jahr 2015 in einem Fachartikel. In ihm gab er diesem Zustand auch seinen Namen „Aphantasie“.
Patient „MX“
Zeman war durch einen seiner Patienten auf das Phänomen aufmerksam geworden. „MX“ hatte nach einer Herzoperation neurologische Auffälligkeiten und eine Aphantasie entwickelt. „Er konnte die Gesichter seiner Familie und Freunde nicht mehr vor sein geistiges Auge holen, keine Szenen oder Orte mehr visualisieren, die in einem Roman beschrieben waren und selbst seine Träume waren ohne Bilder“, berichtet Zeman.
Inzwischen weiß man, dass MX unter den Betroffenen eher eine Ausnahme darstellt. Denn bei ihm trat die Aphantasie nachträglich auf und durch eine Schädigung des Gehirns verursacht. In den meisten Fällen ist die Aphantasie jedoch angeboren – und möglicherweise genetisch bedingt: „Extreme im Vorstellungsvermögen neigen dazu, in Familien gehäuft aufzutreten“, erklärt Zeman. „Das deutet auf eine erbliche Verknüpfung hin.“ Heutigem Wissen nach sind zwei bis fünf Prozent der Menschen von einer Aphantasie betroffen.
Nicht nur die Bilder fehlen
Die Art, wie sich die Aphantasie manifestiert, kann allerdings individuell sehr unterschiedlich sein. Bei einigen ist nur die willentliche visuelle Vorstellungskraft betroffen, beispielsweise beim aktiven Heraufbeschwören eines Gesichts oder einer bildhaften Erinnerung. Unwillkürliche Formen der Rekapitulation, beispielsweise im Traum, sind jedoch normal. Die meisten Menschen mit Aphantasie erleben allerdings auch ihre Träume ohne Bilder oder erinnern sich nicht daran, überhaupt geträumt zu haben.
Unterschiede gibt es auch darin, welche Sinneseindrücke betroffen sind: „Aphantasie ist nicht nur mit dem Fehlen der inneren Bilder verknüpft, sondern kann auch ein breitgestreutes Muster weiterer sensorischer und kognitiver Prozesse betreffen“, erklärt Alexei Dawes von der University of New South Wales. Bei Untersuchungen mit 250 Betroffenen stellten er und sein Team fest, dass bei 26 Prozent von ihnen auch die Rekapitulation anderer Sinneseindrücke nicht funktionierte. Sie sahen nicht nur keine inneren Bilder – sie konnten auch keine Gerüche, Klänge oder Tasteindrücke geistig nacherleben.
Kein Ohrwurm, keine innere Musik
Was aber bedeutet das konkret? Wenn wir uns an einen Tag am Strand erinnern, bleibt diese Erfahrung für die meisten Menschen nicht abstrakt: Wir hören in unserem Geiste wieder die Schreie der Möwen und das Wellenrauschen, empfinden das Gefühl des Sands zwischen den Zehen oder die Wärme der Sonne auf der Haut. Menschen mit einer alle Sinne umfassenden Aphantasie können diese Erfahrung nicht auf diese Weise nacherleben. Sie erinnern sich an die Möwen und den Sand auf rein rationale, abstrakte Weise, nicht als geistige Rekapitulation.
Auch die Erinnerung an Musik, einen Ohrwurm oder sogar das gerade selbst gespielte Musikstück ist bei einigen Menschen mit Aphantasie eingeschränkt und abstrakt. Für Neesa Sunar bedeutete das Unvermögen, Musik in ihrem Geist wiederzuerwecken, den Abschied von einem Traum als Profi-Musikerin: „Ich war eine klassische Violinistin und habe an einem renommierten Konservatorium studiert. Aber mir fiel es schwer, die letzte Perfektion zu erreichen“, schildert sie im Magazin „Psyche“. „Ein Großteil des Musizierens beruht auf der Fähigkeit, Musik im Geiste zu hören, die man dann im physischen Spiel des Instruments wiedergibt.“ Hat man aber keine innere Musik, kann man auch Gehörtes nicht präzise rekapitulieren.