Neben Bootswellen, Luftspiegelungen oder einfach Treibgut hat in jüngster Zeit noch ein physikalischer Erklärungsversuch von sich reden gemacht. Amerikanische und britische Wissenschaftler, darunter auch Adrian Shine, der seit Jahrzehnten den Loch Ness erforscht, halten nun unterseeische Riesenwellen für die Ursache des vermeintlichen „Seemonsters“.
Was reichlich dramatisch und spekulativ klingt, beruht in Wirklichkeit auf einem ganz einfachen physikalischen Prinzip. Zu beobachten ist dieses nicht nur bei Gitarrensaiten, sondern beispielsweise auch in jeder Badewanne: Wenn wir uns nach einem Bad schnell aus der Wanne erheben, strömt das zuvor von uns verdrängte Wasser sofort zurück an die so plötzlich freigewordene Stelle. Es entsteht eine Welle, die erst in die eine Richtung schwappt, sich dann an der steilen Wannenwand bricht, die Richtung wechselt und zurückschwappt. Dieses Hin und Her geht so lange, bis alle Energie verbraucht ist und die Wasseroberfläche wieder langsam glatt wird.
Immer, wenn eine Welle in dieser Weise zwischen zwei festen Begrenzungen hin und herschwingt, sprechen Physiker von einer stehenden Welle oder Seiche. Und genau dies, nur in erheblich größerem Maßstab, findet auch in „Nessies Badewanne“, dem Loch Ness, statt.
Dort allerdings spielt sich das Ganze nicht an der Wasseroberfläche ab, sondern an der Grenzschicht zwischen den im Sommer warmen, oberen Wasserschichten und dem konstant fünf Grad kalten Tiefenwasser. Wegen der Dichteunterschiede zwischen den Wasserschichten verhält sich diese Grenzschicht ähnlich wie die Grenzschicht zwischen Luft und Wasser – auch in Hinsicht auf die Wellenbildung.
Verursacht werden diese Wellen vor allem durch die Ausrichtung des Loch Ness: Seine nach Südwesten zeigende Schmalseite bietet den in dieser Region häufigen Südwestwinden ein perfektes Eingangsportal. Wehen sie stark, schieben sie das warme Oberflächenwasser über die ganze Länge des Sees bis ans Nordostende und stauen es dort auf. Durch sein Gewicht verdrängt das Warmwasser das kalte Tiefenwasser. Als Folge steht die Grenzschicht zwischen beiden Schichten schräg, im Norden liegt sie tiefer als im Süden.
Lässt dann der Wind plötzlich nach, entsteht genau der gleiche Effekt wie beim Aufstehen in der Badewanne: Das Warmwasser weicht wieder nach Süden zurück und gibt den Raum für das kalte Tiefenwasser plötzlich frei. Dieses Zurückschwappen kann an der Grenzschicht bis zu 40 Meter hohe Wellen auslösen.
An der Oberfläche des Sees ist von diesen dramatischen Ereignissen nur wenig zu spüren, aber gerade das wenige könnte einen Teil, wenn nicht sogar alle Sichtungen und eine ganze Reihe von „unerklärlichen“ Sonarechos erklären, meint Adrian Shine. Die unterseeische Welle kann beispielsweise Baumstämme aus den Tiefen an die Oberfläche hieven und sogar ein Stück aus dem Wasser katapultieren – und so die Illusion eines auftauchenden Tieres erzeugen. Auch Wellen und Strömungen entgegen der Windrichtung sind während einer Seiche keine Seltenheit.
Für Shines Erklärung spricht auch, dass die allermeisten Nessie-Beobachtungen aus dem Sommer stammen – genau aus der Zeit, in der die Seichen am häufigsten ist, weil hier die Grenzschicht zwischen warmem und kaltem Wasser besonders stark ausgeprägt ist. Doch eindeutig beweisen konnten Shine und andere Vertreter der Wellen-Theorie den Zusammenhang bisher nicht…
Stand: 03.06.2005