Es gibt noch eine dritte Hypothese, warum sich Sex in der Evolution durchgesetzt haben könnte: Die sexuelle Vermehrung ist besser darin, schädliche Mutationen loszuwerden. Bei jeder Zellteilung besteht das Risiko, dass Kopierfehler zum Austausch von DNA-Basen, zu fehlenden Abschnitten im Erbgut oder anderen Mutationen führen. Als Folge sammeln sich solche Veränderungen im Erbgut an.
Fatale Anreicherung
Diese Anreicherung mit Mutationen ist selbst bei besten genetischen Reparaturmechanismen unvermeidlich – nur die Mutationsrate unterscheidet sich je nach Organismus. Auch wir Menschen werden im Schnitt mit rund 70 Mutationen geboren, die unsere Eltern noch nicht besaßen und die in unserer Embryonalentwicklung entstanden sind. Die meisten dieser subtilen DNA-Veränderungen bleiben folgenlos.
Doch im Laufe der Zeit können Kombinationen von Mutationen entstehen, deren schädliche Effekte sich potenzieren. Im Extremfall machen sie krank oder können sogar zum Tode führen. Biologen sprechen in diesem Zusammenhang von Mullers Ratchet – nach dem US-Genetiker Hermann Joseph Muller und dem Mechanismus der Ratsche oder Sperrklinke. In der Mechanik ist dies ein Bauteil, das zwar eine Vorwärtsbewegung ermöglicht, nicht aber ein Zurück.
Muller postulierte in den 1930er Jahren, dass es auch bei Mutationen im Erbgut von Organismen immer nur eine Richtung gibt – hin zu einer Anreicherung. Irgendwann kommt dadurch der Punkt, an dem wichtige Gene mutationsbedingt nicht mehr korrekt funktionieren und ein Organismus krank wird oder stirbt. Für eine asexuelle Spezies aus genetischen Klonen kann dies das Ende bedeuten. „Ohne Sex reichern Populationen schädliche Mutationen an und bringen so jede Generation näher ans Aussterben“, erklärt Matthew Gage von der University of East Anglia.
Rekombination als Chance und Gefahr
Anders ist dies hingegen, wenn das Erbgut durch die Meiose und Befruchtung ständig rekombiniert wird. Weil dabei ganze DNA-Abschnitte und Chromosomen „herausgemendelt“ werden und nicht in die Keimzellen gelangen, entstehen einige Nachkommen, denen ein ganzer Packen dieser Mutationen fehlt. Sie starten demnach mit einem „frischen“, mutationsärmeren Genom ins Leben.
Umgekehrt werden aber auch Nachkommen gebildet, die bei dieser genetischen Neuverteilung eine Niete gezogen haben: Ihr Erbgut hat so viele schädliche Mutationen erhalten, dass sie nicht lebensfähig sind – sie sterben oft schon vor der Geburt. Dies ist zwar für das einzelne Individuum fatal, wirkt sich aber günstig auf das Wohlergehen der Gesamtpopulation aus. Denn dadurch werden regelmäßig mehrere schädliche Mutationen auf einmal aus dem Genpool der Art entfernt – so jedenfalls besagt es Mullers Ratschen-Hypothese.
Indizien in unserem eigenen Genom
Ob sich für diesen Eliminationseffekt auch Belege in der Natur finden, haben seither viele Forschungsteams untersucht – und einige Anhaltspunkte dafür gefunden. Diese finden sich sogar in unserem eigenen Genom, wie ein Team unter Leitung von Philip Awadalla von der University of Montreal 2015 herausgefunden hat. Ausgangspunkt ihrer Studie war die Tatsache, dass manche Bereiche unserer Chromosomen häufiger umverteilt werden als andere.
Für ihre Studie untersuchten die Wissenschaftler am Genom von 1.400 Menschen aus aller Welt, ob sich die Zahl der angehäuften Mutationen in diesen Rekombinations-Hotspots von denen weniger veränderlichen Regionen unterscheidet. Und tatsächlich: „Exons in Regionen mit geringer Rekombination sind signifikant mit schädlichen und krankmachenden Genvarianten angereichert“, berichten Awadalla und sein Team. Umgekehrt wiesen die Rekombinations-Hotspots im Genom eine deutlich geringere Mutationsdichte auf.
Potenzierte Wirkung
In die gleiche Richtung weist die Studie eines Teams um Alexey Kondrashov von der University of Michigan aus dem Jahr 2017. Sie hatten anhand der Mutationsrate von Mensch und Fruchtfliege überprüft, wie viele und welche schädlichen Mutationen sich im Verlauf der Generationen angereichert haben müssten und wie viele es tatsächlich sind. Damit wollten sie überprüfen, ob die Rekombination tatsächlich so selektiv wirkt, dass die besonders schädlichen Mutationen verstärkt eliminiert werden.
Das Ergebnis: Während die Dichte der Mutationen mit keinem oder nur latent schädlichem Effekt in realen Populationen mit dem Modell übereinstimmten, galt dies für stärker schädliche Mutationen nicht: Ihre Zahl ist im menschlichen Erbgut signifikant geringer als sie sein müsste. Schwere Erbkrankheiten sind daher bei uns Menschen selten, aber Risikofaktoren für Zivilisationskrankheiten trägt nahezu jeder von uns.
Selektive Selektion
Die Forscher schließen daraus, dass die Selektion im Rahmen der sexuellen Fortpflanzung stärker auf solche Genveränderungen wirkt: Weil sich die Schadwirkung dieser Mutationen bei ihrem rekombinationsbedingten Zusammentreffen potenziert, verschwinden sie schneller aus der Population. „Das erklärt, warum die Populationen von Mensch und Fruchtfliege trotz ihrer hohen Mutationsraten erhalten geblieben sind“, so das Team.
Zusammengenommen bestätigen diese und weitere Studien, dass Sex nicht nur Vorteile durch schnellere Anpassung und optimierte Widerstandskraft bringt. Er trägt auch dazu bei, der zunehmenden Mutationslast einer Spezies entgegenzuwirken.