Im Jahr 1848 hielt der englische Naturforscher Robert Smith Edleston eine ungewöhnliche Entdeckung in seinem Tagebuch fest: „Heute habe ich in der Nähe des Zentrums von Manchester eine fast völlig schwarze Form von Biston betularia (Birkenspanner) gefangen.“ Diese Sichtung war erstens ungewöhnlich, weil die Nachtfalterart normalerweise cremefarbene Flügel mit dunklen Sprenkeln besitzt und zweitens, weil noch nie zuvor ein dunkles Exemplar gesichtet worden war.
Das hat auch gute Gründe, denn ein Birkenspanner mit dunklen Flügeln wäre eine Fehlkonstruktion der Natur. Anders als seine schwarz-weißen Artgenossen könnte er sich nämlich nicht im gleichfarbigen Geäst der Birken vor Vögeln und anderen Raubtieren tarnen. Seine Überlebenschancen gingen gegen Null. Und doch existierte diese Motte im Jahr 1848 – und sie war nicht allein.
Schwarz auf Schwarz
Nur 50 Jahre nach Edlestons erster Sichtung wimmelte es rund um die großen englischen Städte nur so vor schwarzen Birkenspannern. Schätzungen zufolge machten sie im Jahr 1900 bis zu 98 Prozent der ansässigen Mottenpopulationen aus. Aber wie war das möglich? Wieso hatte ihre schlechte Tarnung nicht längst hungrige Vögel auf sie aufmerksam gemacht?
Ganz einfach: Weil sich die Kulisse verändert hatte, vor der es sich nun zu tarnen galt. Denn die Stämme und Äste der Birken rund um Englands Metropolen waren im Jahr 1900 längst nicht mehr weiß mit schwarzen Sprenkeln, sondern komplett dunkel. Der Ruß der Fabrikschlote, die während der industriellen Revolution überall aus dem Boden geschossen waren, hatte die Birkenstämme in ein schwarzes Gewand gehüllt. Und dadurch waren es auf einmal die schwarzen Falter, die sich vor den Blicken der Vögel verstecken konnten, während die cremefarbenen Birkenspanner auffielen wie die sprichwörtlichen bunten Hunde.
Darwin und die Motten
Die Geschichte des Birkenspanners gilt als Paradebeispiel für die Evolution nach Charles Darwins Prinzip der natürlichen Selektion. Es besagt, dass nur jene Individuen einer Art überleben und ihrerseits Nachkommen zeugen können, die gut an ihre Umwelt angepasst sind. In der vorindustriellen Welt waren das die Birkenspanner mit cremefarbenen Flügeln. Dank ihrer Tarnung konnten sie lange genug leben, um sich fortzupflanzen und ihre helle Flügelfarbe wiederum an die nächste Generation weiterzuvererben. So prägte sich schließlich das typische Aussehen der Falter.
Zwar gab es hier und da auch mal einen schwarzen Birkenspanner, dessen abweichende Flügelfarbe durch eine seltene Genmutation entstanden war, doch er lebte in der Regel nicht lange genug, um seine Gene in großem Stil weiterzugeben. Mit Einsetzen der industriellen Revolution hatte sich der Spieß jedoch umgedreht und auf einmal war es die zuvor ungünstige dunkle Färbung, die den Tieren nun das Überleben sicherte.
Stechmücken aus dem Untergrund
Der Birkenspanner steht auch deshalb so sinnbildlich für die natürliche Selektion nach Darwin, weil sie sich bei ihm in Echtzeit beobachten ließ. Den Schalter von Sprenkel auf dunkel umzulegen, dauerte bei ihm nicht Hunderttausende oder gar Millionen Jahre, sondern nur wenige Jahrzehnte. Doch der Birkenspanner ist längst nicht das einzige Tier, bei dem die Evolution den Turbo eingelegt hat.
Ungefähr zur selben Zeit, als der Ruß der Industriellen Revolution die Birken schwarz färbte, begann in London auch der Bau der U-Bahn-Tunnel. Als die Arbeiter sich immer tiefer in den Untergrund gruben, folgten ihnen jedoch blinde Passagiere: Stechmücken. Für sie erstreckte sich unter den Straßen Londons ein komplett neues Ökosystem, dem sie sich über Generationen hinweg zunächst in ihrem Verhalten und schließlich in ihrer DNA anpassten.
Heute haben sich die Underground-Stechmücken genetisch so weit von ihren Verwandten an der Oberfläche entfernt, dass sie die neue Unterart Culex pipiens molestus bilden. Anders als früher paaren sich die Tiere außerdem nicht mehr in Schwärmen, weil dafür nicht genug Platz ist, und sie verzichten auf die Winterruhe, da es im Londoner Untergrund ganzjährig ausreichend warm ist. Zum Leidwesen der Kanalratten und Fahrgäste, die nun selbst im Winter gestochen werden.
Der Mensch als Motor der Evolution
Die rasche Evolution der Birkenspanner und U-Bahn-Stechmücken hat eines gemeinsam: Ohne uns Menschen hätte sie nicht stattgefunden. Unabsichtlich, quasi nebenbei, haben wir neue Spielregeln für die Evolution festgelegt und ihr so als leistungsstarker Motor gedient. Durch die menschengemachte Veränderung der Lebensräume entscheiden wir mittlerweile oft, woran es sich anzupassen gilt, welche Merkmale vorteilhaft sind und welche nicht. Evolutionsbiologen sprechen in diesem Zusammenhang auch von anthropogener Selektion.
„Ohne es zu merken, sind wir in unserer Macht ziemlich gottähnlich geworden. Wir kontrollieren, was lebt und stirbt“, formuliert es der JSTOR Daily-Autor Matthew Wills. Nur jene Lebewesen, die sich schnell genug an unsere Regeln anpassen, haben noch eine Zukunft auf diesem Planeten.
Nachjustieren zum Überleben
Auch wenn zahlreiche Lebewesen an dieser Evolution im Zeitraffer scheitern, gibt es gleichzeitig genug, die sich der Herausforderung stellen. Innerhalb weniger Jahrzehnte haben sie gelernt, in den von uns geschaffenen Lebensräumen und unter den von uns vorgegebenen Bedingungen zu überdauern. Da wären zum Beispiel unter Autobahnbrücken nistende Fahlstirnschwalben, die kürzere Flügel entwickelt haben, um seltener mit Autos zu kollidieren. Oder Bänderschnecken, die in Stadtzentren ein helleres Gehäuse besitzen als im Umland, damit sie im wärmeren Großstadtdschungel nicht überhitzen.
In Puerto Ricos Städten haben die Geckos klebrigere Zehen und längere Beine als anderswo, um sich besser an den Gebäudefassaden festhalten zu können. Den Kohlmeisen in unseren Gärten wachsen immer längere Schnäbel, mit denen sie besser an die Leckereien im Futterhäuschen kommen. Stadtratten können mittlerweile selbst stark fett- und zuckerhaltige Nahrung verdauen. Und die Bakterien in unseren Krankenhäusern haben Antibiotikaresistenzen entwickelt, mit denen sie den Medikamenten entgehen, die sie eigentlich abtöten sollen.