Die derzeit erfolgenden Erbgutvergleiche machen mehr und mehr deutlich, dass sich Nesseltiere und höher entwickelte Wirbeltiere (Vertebraten) sehr viel ähnlicher sind als man bislang glaubte. So ist die Vielfalt der von tierischen Organismen bekannten Signalwege bereits im Erbgut der Nesseltiere angelegt.
Verlorene Gene
Die neuen genetischen Daten unterstreichen zudem die Entdeckung der Heidelberger Forscher, dass in manchen Tiergruppen viele dieser alten Gene verloren gegangen sind; umgekehrt belegen die Daten, wie bedeutend diese Gene für die rasche Expansion des genetischen Repertoires während der Evolution und für das Entstehen der Vielzelligkeit gewesen sein müssen.
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Wie die genetische Komplexität während der Evolution der morphologischen Komplexität vorangeschritten ist, zeigt das Beispiel der „mesodermalen“ Gene. Dabei handelt es sich um Erbanlagen, die während der Entwicklung des Embryos dafür sorgen, dass sich ein mittleres Keimblatt, das so genannte Mesoderm, ausbildet. Nesseltiere besitzen lediglich zwei Keimblätter: ein äußeres schützendes Ektoderm und ein inneres, der Verdauung dienendes Entoderm. Ein Mesoderm, aus dem bei höheren Lebewesen das Gefäßsystem und die Muskulatur hervorgehen, besitzen Nesseltiere nicht.
Gene aus der Frühzeit der Evolution
Nichtsdestotrotz verfügen Nesseltiere über den kompletten Katalog mesodermaler Gene, die bei ihnen für das Heranreifen der so genannten Epithelmuskelzellen zuständig sind – das sind Zellen, die sich im äußeren Ektoderm finden und die mit muskelzellähnlichen kontraktilen Fasern ausgestattet sind.
Die Gene für die Embryonalentwicklung und das Heranreifen von Zellen zu bestimmten Zelltypen mit besonderen Aufgaben, etwa zur Muskelzelle, reichen also bis in die Frühzeit der Evolution zurück. Wie es dazu kam, dass die Natur im Laufe der Evolution immer wieder die gleichen Signalketten in neuen Zelltypen, Strukturen und Organen verwendet hat, ist noch gänzlich unverstanden und wird zurzeit intensiv erforscht.
Thomas W. Holstein / Forschungsmagazin „Ruperto Carola“ der Universität Heidelberg
Stand: 02.07.2009