Eine andere Hypothese zur Dominanz unserer Vorfahren haben Richard Potts vom National Museum of Natural History in Washington und sein Team. Demnach war der Homo sapiens möglicherweise die erste Menschenart, die soziale Netzwerke auch über größere Entfernungen hinweg unterhielt. Statt in kleinen isolierten Gruppen zu leben, begannen unsere Vorfahren schon vor gut 300.000 Jahren, sich in größeren Verbänden auszutauschen.
Innovation in der Werkzeug-Herstellung
Entscheidende Indizien für ihr Szenario haben Potts und sein Team erst vor kurzem im Süden Kenias entdeckt. Im Olorgesailie-Becken, einem Teil des Ostafrikanischen Grabens, stießen sie auf Steinwerkzeuge, die für ihr Alter von 320.000 bis 2895.000 Jahren schon überraschend fortgeschritten waren. Denn statt der groben Faustkeile früherer Zeiten handelte es sich bei diesen Funden um Werkzeuge, die mit der Levalloistechnik hergestellt waren – einer eng mit dem Homo sapiens verknüpften Technik.
Bei dieser Technik werden nicht mehr die Ausgangsbrocken als Basis für das Werkzeug genutzt, sondern die Abschläge. Durch gezielte Schlagtechniken werden die Steinfragmente dabei zu ein- und zweischneidigen Klingen, zu Speerspitzen oder anderen spezialisierten Werkzeugen geformt. „Diese mittelsteinzeitlichen Produkte spiegeln eine Innovation und Standardisierung wider, die es zuvor nicht gegeben hat“, sagen die Archäologen. „Das deutet darauf hin, dass sich schon vor rund 300.000 Jahren neue kognitive Fähigkeiten bei den Frühmenschen in Ostafrika entwickelt hatten.“
Rohmaterial von fernen Orten
Interessant auch: „Rund 42 Prozent der im Olorgesailie-Becken gefundenen Steinwerkzeuge bestanden aus Obsidian, einem Mineral, für das es vor Ort keine Quelle gab“, berichten Potts und seine Kollegen. Analysen ergaben, dass dieses Material stattdessen aus mehreren zwischen 25 und 50 Kilometer entfernten Formationen stammte – in der gebirgigen Landschaft entsprach das damals mehreren Tagesreisen. Auch Pigmente wie Ocker, die die Forscher in Olorgesailie entdeckt haben, waren nicht lokaler Herkunft.
„Das spricht für ein neues Verhalten im menschlichen Repertoire: Die Bildung von Netzwerken für den Austausch oder die Akquise von Rohstoffen über größere Entfernungen hinweg“, sagen die Archäologen. Ihrer Ansicht nach könnte diese Verknüpfung zu größeren Gruppen die kognitive Entwicklung unserer Vorfahren entscheidend vorangetrieben haben. „Der Homo sapiens, aber nicht der Neandertaler, entwickelte und erhielt solche ausgedehnten sozialen Netzwerke über weite Gebiete hinweg“, sagt Potts. „Das könnte eine mögliche Erklärung für das Wachstum des menschlichen Gehirns in der Mittelsteinzeit sein.“
Hilfe in wechselnden Umwelten
Die Forscher vermuten, dass der Austausch zwischen weiter entfernt lebenden Menschengruppen ihnen half, besser mit schnell wechselnden Umweltbedingungen zurechtzukommen. Denn wie die Ausgrabungen im Olorgesailie-Becken zeigen, gab es in Ostafrika vor rund 300.000 Jahren mehrfach starke Klimaumschwünge. Der durch das Becken fließende Fluss trocknete dabei zeitweise aus, dann wieder wurde er zum reißenden Strom.
„Solche Klimaschwankungen im Jahres- oder Zehnjahreszyklus haben großen Einfluss auf das Überleben, die Fortpflanzung und die Demographie von Populationen“, sagen Potts und seine Kollegen. Unseren Vorfahren könnten diese unberechenbaren Umweltbedingungen den Anstoß gegeben haben, ihren räumlichen und geistigen Horizont zu erweitern: Auf der Suche nach Lösungen begannen sie weiter umherzuziehen und engere Kontakte mit Nachbargruppen zu knüpfen. Der dadurch in Gang kommende Austausch von Waren und Wissen wiederum half ihnen, die Klimawechsel zu überstehen.
Nadja Podbregar
Stand: 14.09.2018