Auch wenn heute klar ist, dass Halluzinationen keine göttlichen Botschaften oder Ausdruck dämonischer Besessenheit sind – viele Menschen sehen in ihnen noch immer ein Symptom schwerer psychischer Erkrankung. Wer Stimmen hört oder nicht existierende Dinge sieht, mit dem muss etwas nicht stimmen, so die landläufige Meinung.
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Tatsächlich sind Halluzinationen eine häufige Begleiterscheinung von Psychosen, darunter vor allem der Schizophrenie. Oft hören die Betroffenen Stimmen, die ihnen Anweisungen geben, sie beschimpfen oder ihnen Angst einjagen können. Es gibt aber auch viele Patienten, die intensive visuelle Halluzinationen erleben. Warum jedoch gerade bei Schizophrenie so häufig Halluzinationen auftreten, ist bis heute weitgehend ungeklärt – was auch daran liegt, dass die neurologischen Wurzeln dieser Krankheit nur in Teilen bekannt sind.
Im Fieberwahn
Doch Psychosen sind keineswegs die einzigen Auslöser für Halluzinationen – ganz im Gegenteil. Inzwischen sind eine Vielzahl von Zuständen und Krankheiten bekannt, die ebenfalls solche Erscheinungen hervorrufen können. Ein Beispiel sind Delirien durch Alkoholvergiftung, Parkinson oder Hirntumore, aber auch hohes Fieber. Letzteres kann vor allem bei Kinder häufiger zu Halluzinationen führen.
Der Neurologe Oliver Sacks berichtet von einer Frau, die sich an seltsame Erlebnisse während eines Fieberschubs als Elfjährige erinnert: „Mein Körper schien zu schrumpfen und wachsen. Mit jedem meiner Atemzüge fühlte sich mein Körper an, als würde er anschwellen, bis ich sicher war, meine Haut würde wie ein Ballon aufplatzen“, schildert die Frau ihre damaligen Eindrücke. Andere Betroffene beschreiben, dass sie seltsam zwergenhafte Figuren oder Riesen sehen oder Musik hören.
Dostojewskis Ekstasen
Auch epileptische Anfälle können Halluzinationen auslösen, vor allem, wenn der Epilepsieherd im Schläfenlappen liegt. Der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski erlebte beispielsweise regelmäßig Anfälle, die von visuellen Halluzinationen und intensiven Glückgefühlen begleitet wurden. „Die Luft war von großem Rauschen erfüllt und ich versuchte mit zu bewegen. Ich fühlte mich, als wenn der Himmel auf die Erde herabgekommen wäre und mich einhüllte“, schildert er eine seiner Erfahrungen. Einige Neurowissenschaftler vermuten sogar, dass erst diese Halluzinationen die teilweise fast mystischen Romane inspirierten, die Dostojewski schrieb.
Nach Ansicht spanischer Forscher könnte der Komponist Frederic Chopin ebenfalls an einer Schläfenlappen-Epilepsie gelitten haben. Die detailreichen, aber sehr kurzen Halluzinationen, die Chopin schildert, passen ihrer Einschätzung nach weder zu Migräne noch gibt es Hinweise auf eine psychotische Erkrankung. Zudem traten diese Erscheinungen schon auf, bevor Chopin begann, gegen seine körperlichen Beschwerden Laudanum einzunehmen. „Diese Diagnose wird uns sicher nicht helfen, Chopins künstlerisches Wirken zu verstehen“, sagt Manuel Caruncho. „Aber das Wissen darüber trägt dazu bei, den Mann und sein Leben besser zu verstehen.“
Ein farbiger Zickzack-Bogen
Weniger dramatisch, aber dafür häufiger sind die Aura-Phänomene bei Migräne: Im Gesichtsfeld erscheinen dabei seltsam geometrische Muster, oft in Form gezackter irisierender Sicheln. Der Neurologe Oliver Sacks beschreibt eine dieser Auren, die er in seiner Kindheit erlebte, so: „Ich spielte im Garten, als ein schimmerndes Licht zu meiner Rechten erschien, blendend hell. Es dehnte sich aus und wurde zu einem enormen Bogen, der vom Boden in den Himmel reichte, mit scharfen, glitzernden Rändern, Zickzack-Kanten und brillanten blauen und orangenen Farben.“
Auch diese visuellen Erscheinungen sind nichts Anderes als Halluzinationen, wie Sacks erklärt: „Denn obwohl es nur Muster sind und keine echten Bilder, gibt es nichts in der äußeren Welt, das diesen Zickzacks und Schachbrettmustern entspricht – sie werden vom Gehirn erschaffen.“ Hirnscans zeigen, dass während eines Migräneanfalls eine Welle anomaler Aktivität durch das Gehirn läuft. Neurologen vermuten, dass die Aura-Halluzinationen dann auftreten, wenn diese Aktivitätswelle die visuellen Zentren durchzieht.
Interessanterweise sind sich die Muster der Migräne-Auren und anderer geometrischer Halluzinationen so ähnlich, dass einige Neurologen in ihnen eine Art „Abdruck“ der Zellarchitektur im visuellen Cortex sehen: Das Feuern der Neuronen spiegelt ihre Anordnung wider.
Nadja Podbregar
Stand: 24.02.2017