August 1972, Ostufer des Turkana-Sees in Kenia. Richard Leakey, der Sohn des Homo habilis-Entdeckers Louis Leakey ist fest entschlossen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten. Auch er sucht nach Relikten unserer Vorfahren und hofft, ähnlich bahnbrechende Funde zu machen wie sein Vater. Zu diesem Zweck hat er die National Geographic Society in Washington überredet, ihm eine Expedition hierher zu finanzieren – in eine in seine Augen ähnlich vielversprechende Region Ostafrikas wie die Olduvai-Schlucht.
Im Gegensatz zu seinem Vater zieht Richard Leakey seine Expedition in großem Stil auf: 25 bis 70 Personen umfasst sein Tross auf Forschern, Grabungshelfern und einheimischen Fossiliensammlern. Und er hat Erfolg: Koobi Fora erweist sich tatsächlich als reichhaltige Fundstätte für Vormenschen-Relikte. Leakeys Team gräbt gleich mehrere Fossilen des Australopithecus aus, darunter auch einige Vertreter des „Nutcracker Man“, Paranthropus boisei. Einige Relikte zeigen zudem Ähnlichkeit mit den Homo habilis-Funden seines Vaters.
Ein Schädel mit geradem Gesicht
Auf einem seiner Suchgänge dann stößt der Fossiliensammler Bernard Ngeneo auf einen weiteren Schädel. Das als KNM-ER 1470 katalogisierte Fundstück ist schon ziemlich abgeschliffen, Zähne fehlen. Dennoch wird schnell klar, dass es sich hier um etwas Besonderes handelt. Denn der rund 1,9 Millionen Jahre alte Schädel gehört relativ eindeutig nicht zu den Australopithecinen. Mit einem Volumen von 750 Kubikzentimetern ist sein Gehirn dafür viel zu groß.
Aber auch zu Homo habilis gibt es signifikante Unterschiede: Das Gesicht von KNM-ER 1470 ist länger und der Oberaugenwulst kaum ausgeprägt. Der Oberkiefer ist zudem nicht abgerundet wie bei Homo habilis, sondern eher eckig mit einem kurzen Gaumen. Wenig später finden die Forscher noch einen Unterkiefer, der zur gleichen Art zu gehören scheint. Dieser bestätigt, was ihr erster Eindruck schon andeutet: Schädel 1470 hat ein sehr viel geraderes Gesicht als Homo habilis, die bei letzterem typisch vorstehende Mundpartie fehlt hier.
Ein „Homo“ – aber was für einer?
Aber worum handelt es sich dann? Richard Leakey will sich da lieber nicht festlegen. Er und seine Kollegen veröffentlichen den Fund als ein „nicht näher bestimmtes Mitglied der Gattung Homo“, ohne ihn einer Art zuzuordnen. Ähnlich wie schon zuvor der Homo habilis seines Vaters löst auch Richard Leakeys Fund heftige Kontroversen aus. Handelt es sich um einen neuen zuvor unbekannten Menschenvorfahren? Oder ist es doch nur eine Form des Homo habilis oder der Australopithecinen? Bis heute ist diese Frage ungeklärt. Ein Grund dafür: Es fehlen bisher Fossilien, bei denen sowohl Schädel als auch andere Skelettteile erhalten sind. Das erschwert die eindeutige Zuordnung.
Unter anderem deshalb bekommt dieser umstrittene Zweig am großen Menschenstammbaum erst lange nach seiner Entdeckung einen Namen: Erst 1986 schlägt der russische Paläoanthropologe den Namen Homo rudolfensis vor, nachdem er auch weitere Fossilien aus Koobi Fora analysiert hat und sie dieser Art zuordnet. Das aber bedeutet: Homo habilis hat Konkurrenz bekommen. Ob er der älteste Vertreter der Gattung Homo war, ist nun fraglich. Denn zumindest einige Homo rudolfensis-Fossilien scheinen noch älter zu sein als er. Und auch ihre Verwandtschaftsverhältnisse sind nach wie vor ungeklärt.
Nadja Podbregar
Stand: 25.04.2014