Während es unserer Erwartung entspricht, dass Tiere und Menschen „fertig“ auf die Welt kommen, akzeptieren wir erstaunlicherweise ebenso selbstverständlich, dass Pflanzen sich während ihres Lebens ständig verändern. Sie nehmen nicht nur an Größe zu, nein, Pflanzen legen auch immer neue Organe wie Blätter, Stiele und Blüten an.
Manche Pflanzenarten tun dies nur wenige Wochen, andere mehrere Jahre und wiederum andere für einige Jahrtausende. Auch Verletzungen, Schnitt und Jahreszeiten nehmen sie gelassen hin und überwinden diese Einflüsse mit der Ausbildung immer neuer Triebe. Wie ist das möglich?
Unerschöpfliche Quelle für neue Zellen
Der Grund hierfür liegt in den Stammzellen, die auch Pflanzen besitzen. Im Gegensatz zu Tieren erhalten Pflanzen jedoch pluripotente Stammzellen – also echte zelluläre Alleskönner – während ihres ganzen Lebens. Dies ist der entscheidende Unterschied, der es Pflanzen ermöglicht, ihre Entwicklung ein Leben lang fortzusetzen: Sie verfügen über eine unerschöpfliche Quelle für neue Zellen mit unlimitiertem Differenzierungspotenzial. Entwicklungsbiologen nennen dies einen „postembryonalen Entwicklungsmodus“, weil der Hauptteil der Entwicklung nach der Embryogenese und nach dem Auskeimen vonstatten geht.
Ein kleines Gedankenexperiment soll dieses Phänomen veranschaulichen: Stellen Sie sich ein Hunde- und ein Katzenbaby vor. Sicher können Sie die Unterschiede vor Ihrem geistigen Auge sehen und die beiden Jungtiere ohne Probleme identifizieren. Nun probieren Sie das Gleiche mit „Pflanzenbabys“, den Keimlingen. Stellen Sie sich bitte den fünf Tage alten Keimling einer Tomate und den fünf Tage alten Keimling einer Kohlpflanze vor. Wieder erkennt Ihr geschultes Auge sofort beide Arten und kann sie klar zuordnen. Nein, es gelingt Ihnen nicht? Warum nicht?
Keimlinge verschiedener Pflanzen sehen nahezu identisch aus
Eine Antwort darauf ist, dass wir uns wahrscheinlich weniger für Pflanzenkeimlinge als für Hundebabys interessieren, obwohl Tomaten und Kohl zu unserer täglichen Kost gehören. Eine andere Antwort lautet: Es gelingt uns deshalb nicht, weil die beiden Keimlinge nahezu identisch aussehen.
Und das, obwohl sich die Entwicklungslinien von Tomate und Kohl während der Evolution schon vor rund 150 Millionen Jahren trennten, sie also deutlich mehr Zeit gehabt hätten, unterschiedliche Merkmale auszuprägen als Hunde und Katzen, die erst vor etwa 40 Millionen Jahren entstanden sind.
Pluripotente Stammzellen liefern flexibles „Baumaterial“
Ganz anders verläuft unser Gedankenexperiment, wenn wir uns die erwachsenen Pflanzen ansehen: Selbst ein botanischer Laie kann jetzt problemlos Kohl und Tomate unterscheiden. Der Grund dafür: Das relevante Entwicklungsprogramm, welches über die Körperform bestimmt, wird bei Pflanzen erst nach der Keimung aktiviert, und erst dann prägen sich die typischen Merkmale der einzelnen Arten aus.
Wir haben also gelernt: Die Entwicklungsprogramme von Tieren und Pflanzen sind grundverschieden, wobei die pluripotenten Stammzellen als ständige Quelle von flexiblem „Baumaterial“ eine der wichtigsten Voraussetzungen dafür sind, dass sich Pflanzen fortwährend verändern.
Jan Lohmann / Forschungsmagazin „Ruperto Carola“ der Universität Heidelberg
Stand: 01.12.2011