Stellen Sie sich vor, es ist spätabends, beispielsweise nach einem Kinobesuch. Auf dem Weg nach Hause gehen Sie die dunkle Straße entlang, weit und breit keine Menschenseele. Dann aber hören Sie hinter ihnen plötzlich Schritte. Sie drehen sich um, erkennen aber nur einen dunklen, bedrohlichen Schatten. Gefahr!
Im Ausnahmezustand
In einer solchen Situation reagiert unser Körper prompt: Angestoßen vom Gehirn, beginnen Drüsen die Stresshormone Adrenalin und Cortisol auszuschütten. Als Folge beschleunigt sich unser Herzschlag, der Blutdruck steigt, kalter Schweiß bildet sich auf unserer Haut. Auch unsere Sinne erscheinen uns nun geschärft, unwillkürlich spannen wir die Muskeln an, bereit, sofort wegzulaufen. Die Stresshormone sorgen dafür, dass genügend Zucker im Blut vorhanden ist, um die Muskeln mit Nahrung zu versorgen. Schmerzen oder Müdigkeit spüren wir in diesem Moment nicht mehr – wir sind vollkommen auf Angriff oder Flucht programmiert.
Diese instinktive Reaktion auf akute Gefahr ist letztlich purer Stress für Geist und Körper. Und doch ist sie im wahrsten Sinne des Wortes überlebensnotwendig. Hätten unsere Vorfahren diese Stressreaktion nicht, wären sie Raubtieren, trügerischen Sümpfen oder Buschfeuern möglicherweise nicht rechtzeitig entkommen. Und auch vor dem Verhungern oder Verdursten bewahrte es sie. Denn der von Nahrungs- oder Wassermangel ausgelöste Stress mobilisierte letzte Reserven und half ihnen, auf der Suche nach Ressourcen länger als normalerweise durchzuhalten. „Aus einem evolutionären Standpunkt betrachtet ist physiologischer Stress daher definitiv eine gute Sache“, erklärt die britische Pharmakologin und „Nature“-Redakteurin Alison Abbott.
Übertourig auf Dauer
Ist die Bedrohung vorbei, klingt der physiologische Ausnahmezustand schnell wieder ab – normalerweise. Was aber, wenn nicht? Wenn finanzielle Sorgen, Ängste und soziale Konflikte uns dauerhaft plagen und unser Körper dies als anhaltende Bedrohung versteht? Dann wird der Stress chronisch: Angetrieben durch die ständig im System kreisenden Stresshormone läuft unser Stoffwechsel permanent auf Hochtouren. Dass dies sowohl mentale als auch körperliche Folgen hat, zeigt sich seit einigen Jahren vermehrt. Forscher finden immer mehr Hinweise darauf, dass diese Art des Stresses krank macht. Er fördert Bluthochdruck und Herz-Kreislauf-Erkrankungen, schwächt das Gedächtnis, ändert unser Verhalten und lässt uns sogar schneller altern.
„Die Botschaft ist klar“, konstatiert die Nobelpreisträgerin Elizabeth Blackburn dazu im Oktober 2012 in einen „Nature“-Kommentar: „Schaffen wir es nicht, den Stress durch anhaltende Bedrohungen wie Kriege, finanzielle Nöte, Missbrauch oder emotionale Vernachlässigung zu lindern, kommt uns dies später teuer zu stehen – persönlich, wirtschaftlich und in vielen anderen Bereichen.“
Nadja Podbregar
Stand: 25.01.2013