Noch schlimmer ist es bei der Analyse des Zellinneren, denn hier kann jede Struktur beliebig in drei Raumrichtungen gedreht sein. So dauert es Stunden und Tage, bevor der Rechner einen 3-D-Datensatz analysiert und entsprechende Formen lokalisiert hat, die er dann zur besseren Unterscheidung farbig markiert. Dass diese Methode funktioniert, haben die Forscher an künstlich hergestellten „Phantomzellen“ getestet, die sie mit verschiedenen, aber strukturell ähnlichen Proteinmolekülen gefüllt hatten.
Gerade die enge Packung der Proteine, die so viele Probleme bereitet, erregt aber auch das besondere Interesse der Martinsrieder Forscher. „Nicht die Rekonstruktion isolierter Moleküle ist unser eigentliches Ziel, sondern vielmehr, solche Strukturen im Kontext der Zelle anzuschauen“, sagt Wolfgang Baumeister. „Denn wir sind davon überzeugt, dass es in der Zelle jenseits des einzelnen Moleküls eine übergeordnete Organisation gibt, eine Organisation in Form einzelner ‚molekularer Maschinen’, die sich nur mithilfe nicht invasiver Methoden untersuchen lässt“.
So erarbeiteten die Forscher beispielsweise das detaillierte Bild einer Amöbenzelle: Es zeigt das Skelett aus Aktinsträngen, die in unterschiedlichen Winkeln miteinander und mit der Zellmembran verknüpft sind. Außerdem erkennt man viele größere makromolekulare Komplexe, beispielsweise Ribosomen, die im Gegensatz dazu eher kugelig geformt sind. Zu ihrer Überraschung entdeckten die Wissenschaftler ferner bei genauer Analyse der Bilder, dass ein neuartiges „Teilchen“ häufig auftrat: Es hat eine tassenförmige Gestalt mit fünf abgerundeten Ecken und einen Durchmesser von rund 20 Nanometern. Bisher weiß man nicht, wozu es dient. Aber derartige Entdeckungen können der funktionellen Erforschung des Proteoms wertvolle Anstöße geben.
Erkenntnisfortschritt oder nur „schöne Bilder“
Es geht also bei solchen Aufnahmen nicht einfach um „schöne Bilder“, die man auf Konferenzen vorzeigen oder in Fachmagazinen publizieren kann. Viel wichtiger ist der Erkenntnisfortschritt, der sich aus der räumlichen Anordnung der Proteine in einer lebenden Zelle ableiten lässt. „Ein Bakterium beispielsweise ist nicht einfach ein Sack voller Enzyme“, erklärt der Biologe Harald Engelhardt. „Die Anordnung der Enzyme gibt uns Auskunft über die chemischen Vorgänge in der Zelle. Man kann davon ausgehen, dass die Proteinmoleküle, die zu einer Stoffwechselkette gehören, jeweils auch lokal konzentriert sind.“ Das gilt etwa für die Synthese von Fettsäuren – eine zyklische Reaktion, an der sieben Proteine mitwirken. Einen entsprechenden Komplex von Enzymen kann man tatsächlich isolieren. Aber die spannende Frage ist, ob sich auch andere Komplexe mit der Elektronentomographie entdecken lassen, die sich nur in ihrer natürlichen Umgebung bilden und dort stabil sind.
Das Elektronentomogramm einer Zelle ist ein Abbild ihres gesamten Proteoms, das man prinzipiell nach den verschiedensten Molekülkomplexen absuchen kann, soweit die Erkennbarkeit und Auflösung der rekonstruierten Strukturen dies zulässt. Die Detail-Auflösung in 3-D, die man bislang erreichen konnte, liegt etwa bei vier Nanometern und ist bisher nur für das Auffinden größerer Proteinkomplexe geeignet. Durch viele kleine Verbesserungen in allen Bereichen arbeiten die Forscher am Max-Planck-Institut für Biochemie daran, diesen Wert noch einmal halbieren zu können.
Stand: 18.03.2004