Substanzbibliotheken, die möglichst viele Eigenschaften von Naturprodukten widerspiegeln, sollten biologisch eher relevant und damit medizinisch brauchbarer sein. Diese Annahme spornt Herbert Waldmann und seine Mitarbeiter an, bei der Entwicklung von kombinatorischen Bibliotheken neue Wege zu gehen. „Naturstoffe sind Substanzen, die sich biologisch bereits bewährt haben“, betont Waldmann, „diese Tatsache sollte man unbedingt nutzen“. Schließlich produzieren Organismen Naturstoffe nicht ohne Grund. Im Gegenteil: Im Laufe der Evolution wurden diese ausgewählt und optimiert, um wichtige physiologische Aufgaben zu erfüllen – meist, indem sie gezielt mit bestimmten Proteinrezeptoren wechselwirken.
Genau die gleiche Aufgabe erfüllen Medikamente im menschlichen Körper. Sie lagern sich, im Idealfall selektiv, an Proteinbindungsstellen an und aktivieren oder blockieren auf diese Weise bestimmte Stoffwechselprozesse. Weil in diesem Sinne gleiche Wirkprinzipien dahinter stecken, ist es nicht verwunderlich, dass beispielsweise das von Schimmelpilzen produzierte Penizillin beim Menschen als Antibiotikum oder das in Pflanzen vorkommende Morphin als Schmerzmittel wirkt. Denn diese Substanzen treffen auch in anderen Organismen auf Proteine mit für sie passenden Bindungsstellen – und docken dort an.
Die uralte Beobachtung, wonach viele Naturstoffe nicht nur ihre ursprünglichen Zielproteine, sondern auch menschliche Eiweiße binden, können Wissenschaftler inzwischen auch auf molekularer Ebene erklären. Sie fanden nämlich, dass die meisten Proteine modular aufgebaute Biomoleküle sind, die aus individuellen Domänen bestehen – aus räumlichen Einheiten, die unter anderem wie eine Kugel, eine Tonne oder eine Schleife aussehen.
Während es beispielsweise mehrere hunderttausend verschiedene menschliche Proteine gibt, schätzen Forscher heute, dass lediglich rund tausend unterschiedliche Faltungstypen für Domänenfamilien existieren. Folglich kommen ähnliche Domänen in verschiedenen Eiweißen vor. „Wenn man Dinge macht, die man vielfach verwenden kann, ist dies effizient,“ kommentiert Waldmann. „Außerdem gibt es gute Gründe, bestimmte räumliche Strukturen zu bevorzugen: Sie sind physikalisch besonders stabil.“ Interessanterweise können ähnliche Domänen aus ähnlichen Aminosäuresequenzen (den Grundbausteinen jedes Proteins) aufgebaut sein; zwingend notwendig ist dies aber nicht.
Stand: 06.08.2004