
Für Aufsehen sorgte 1997 die Entdeckung eines französisch-britischen Forscherteams um Hervé Perron. Die Wissenschaftler hatten in der Rückenmarksflüssigkeit von Patienten mit der Autoimmunerkrankung Multiple Sklerose (MS) die Signatur eines Virus nachgewiesen, das sich als endogenes Retrovirus entpuppte. Das env-Gen dieses HERV-W war genau die Sequenz, die auch das für die Plazenta so wichtige Protein Syncytin-1 produzierte. Aber war diese Genaktivität wirklich der Auslöser der MS? Immerhin war ja auch bereits in den Gehirnen gesunder Menschen Syncytin gefunden worden.
Syncytin als Januskopf
Zahlreiche Forschergruppen sprangen auf den Zug auf und suchten nach Zusammenhängen. Im Jahr 2004 gelang es dann einem internationalen Team von Wissenschaftlern tatsächlich, das HERV-W mindestens als mitschuldig zu überführen. Sie hatten nicht nur das Virenprotein genau am Ort des Geschehens nachgewiesen, sondern auch, welche Folgen seine Präsenz dort hat:
„Das Syncytin-1 wird dabei genau in den Regionen der akuten Demyelinisierung gebildet“, schildert „Virolution“-Autor Frank Ryan die Ergebnisse. „Und es kann beim besten Willen nicht mehr als Schutzfaktor gedeutet werden, denn es ruft die Freisetzung chemischer Verbindungen hervor, die die Oligodendrozyten abtöten, also jene Zellen, die die Myelinscheide bilden.“ Noch immer allerdings bleiben einige Fragen offen, darunter auch, warum das Syncytin bei MS-Patienten schädlich wirkt, sonst aber offensichtlich nicht. Könnte es mehrere Syncytinformen geben? Oder spielen möglicherweise weitere, exogene Einflussfaktoren eine Rolle?
HERV-Mitschuld auch bei Lupus?
Ein anderer Fall, bei dem Forscher heute zumindest eine Beteiligung endogener Retroviren vermuten, ist die Autoimmunerkrankung Lupus erythematodes (SLE). Bei dieser reagiert das Immunsystem der Betroffenen auf ungenügend abgebaute Relikte von Zellen, die eigentlich durch das körpereigene Selbstmordprogramm beseitigt werden sollten. Dies führt zu Hautveränderungen und Entzündungen in Gefäßen und Organen, die im Extremfall zum Organversagen und zum Tod führen können.