Die Wiege des Homo sapiens stand in Afrika – so viel scheint klar. Doch wann und wo sich die ersten Vertreter unserer Art entwickelten, ist noch immer nicht eindeutig geklärt. Zu dünn sind die Daten und zu komplex die Geschichte der verschiedenen Bevölkerungsgruppen auf diesem Kontinent.
Ostafrika oder Südafrika?
Lange Zeit galt Ostafrika als der „Garten Eden“. Denn aus dieser damals fruchtbaren Region am Ostafrikanischen Grabenbruch stammen einige der ältesten bekannten Überreste des Homo sapiens. Wie anatomische Analysen ergaben, zeigen die 160.000 und 195.000 Jahre alten Fossilien von Omo Kibish und Herto in Äthiopien bereits viele für den modernen Menschen typische Merkmale. Sie besitzen ein eher flaches Gesicht und kaum noch Überaugenwülste. Die Stirn und der Schädel sind zudem bereits stärker gewölbt, um Platz für das mit 1.450 Kubikzentimetern schon sehr große Gehirn zu schaffen.
Doch waren diese frühen Sapiens-Vertreter wirklich die ersten ihrer Art? Im Jahr 2011 weckte eine DNA-Studie Zweifel daran. In ihr hatten Forscher die Verteilung bestimmter Genkopien in 27 Populationen afrikanischer Volksstämme analysiert. Ihre Auswertung enthüllte, dass die Jäger und Sammler im Süden Afrikas genetisch vielfältiger sind als jeder andere afrikanische Volksstamm. Besonders groß war die Gen-Vielfalt bei den in der Kalahari lebenden Buschmännern.
Das aber ließ nach Ansicht der Wissenschaftler nur einen Schluss zu: Der frühe Homo sapiens entstand nicht in Ostafrika, sondern im Süden Afrikas. Denn der Genpool einer Art ist meist dort am größten, wo diese ihr Ursprungsgebiet hat. Unterpopulationen in anderen Gebieten tragen dagegen immer nur einen Teil der genetischen Bandbreite in sich, weil sie von einer begrenzten Zahl von Auswanderern abstammen. Hinzu kommt: Auch in Südafrika haben Forscher Fossilien früher Homo-sapiens-Vertreter gefunden. War demnach doch Südafrika die Wiege unserer Art?
Oder doch überall?
Mitten in die Debatte um diese Frage platzte 2017 eine sensationelle Entdeckung: Bei Ausgrabungen im marokkanischen Jebel Irhoud stießen Forscher um Jean-Jacques Hublin vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie auf die fossilen Schädel, Unterkiefer, Zähne und Beinknochen von mindestens fünf frühen Vertretern des Homo sapiens.
Als das Team die Knochen und die gemeinsam mit den Fossilien entdeckten Feuerstein-Werkzeuge datierte, erlebte es eine Überraschung: Diese Relikte waren bereits 300.000 Jahre alt. Trotz ihres hohen Alters aber besaßen diese Menschen bereits ein relativ modernes, flaches Gesicht und eher kleine Kiefer. Sie könnten sich daher ohne weiter aufzufallen unter die Bewohner heutiger Städte mischen – solange sie einen Hut tragen. Denn wie Hublin erklärt, war der Hirnschädel der Fossilien von Jebel Irhoud noch eher länglich und weniger gewölbt als der heutiger Menschen.
Komplexe Wurzeln
Die neuen Funde werfen ein ganz neues Licht auf die Evolution unserer Art. Denn sie sind nicht nur älter als alle bisher bekannten Fossilien des Homo sapiens, sie wurden auch an einem ungewöhnlichen Ort gefunden: Nicht in Ostafrika oder im Süden des Kontinents, sondern im Westen Nordafrikas – weit von den etablierten Wiegen der Menschheit entfernt. „Wenn es einen Garten Eden gab, dann muss er daher ganz Afrika umfasst haben“, sagt Hublin.
Das aber bedeutet: Der Homo sapiens ist älter als gedacht, was inzwischen auch genetische Studien bestätigt haben. Und er könnte nicht nur an einem Ort entstanden sein, sondern vielleicht sogar an mehreren gleichzeitig – oder aber aus einem Zusammenspiel vieler regionaler Populationen. Unsere Vorgeschichte wird damit wieder ein Stückchen komplexer und undurchsichtiger.
Nadja Podbregar
Stand: 14.09.2018