Wenn unsere Vorfahren Halluzinationen erlebten, sahen sie diese meist als Botschaften von höheren Wesen an – seien es nun Götter oder Dämonen. Aus dem Nichts erscheinende Lichtgestalten oder donnernde Stimmen vom Himmel tauchen nicht von ungefähr in vielen religiösen Legenden und Schriften auf. Umgekehrt galten Menschen, die fremde Stimmen hörten oder sich mit unsichtbaren Gegenüber unterhielten, häufig als besessen.
Erst das Gehirn erschafft unsere Welt
Heute weiß man, dass Halluzinationen keineswegs auf den Einfluss höherer Wesen zurückgehen. Stattdessen sind sie eine Sinnestäuschung, die eng mit der Funktionsweise unseres Gehirns verknüpft ist. Denn: Unsere Wahrnehmung ist weit komplexer als ein einfaches Reiz-Reaktions-Schema. „Unser Sehen beispielsweise ist ein konstruktiver Prozess“, erklärt Christoph Teufel von der Cardiff University. „Erst unser Gehirn erzeugt die Welt, die wir zu sehen glauben.“
Stellen Sie sich beispielsweise vor, sie betreten Ihr Wohnzimmer und am Rand ihres Gesichtsfelds verschwindet ein schwarzes Etwas just in diesem Moment blitzschnell hinter dem Sofa. Wenn Sie Katzenbesitzer sind, dann „erkennen“ Sie ganz deutlich, dass es ihre Katze ist, die da gerade Reißaus nimmt. Sie „sehen“ Kopf, Ohren und vielleicht sogar das Aufleuchten der Augen.
Interpretation statt objektiver Wiedergabe
In Wirklichkeit jedoch hat Ihr Auge kaum mehr als einen verwischten Schwarzen Fleck wahrgenommen. Und auch nur diese Signale gelangten über den Sehnerv in das primäre Sehzentrum am Hinterkopf. Doch dabei bleibt es nicht: Unser Gehirn schaltet nun weitere Hirnareale hinzu und ruft unter anderem die Information darüber ab, welche früheren schwarzen Flecke wir schon in ähnlichen Situationen gesehen haben.
„Unser Gehirn füllt Lücken, ignoriert die Reizkomponenten, die nicht ganz hineinpassen und präsentiert uns dann ein redigiertes Bild der Welt, das zu dem passt, was wir erwarten“, erklärt Teufel. Dadurch sehen wir nie eine direkte Wiedergabe dessen, was da ist, sondern immer eine Interpretation – einen von unserm Denkorgan gefilterten und bearbeiteten Sinneneindruck. Erst die Verarbeitung des Signals in den nachgeschalteten Ebenen macht aus dem Reiz ein Bild oder einen Ton oder einen Tasteindruck.
Gehirn als Selbstläufer
Und genau hier kommt die Halluzination ins Spiel: Neurowissenschaftler gehen heute davon aus, dass diese Erscheinungen immer dann auftreten, wenn die nachgeschalteten Ebenen der Sinneswahrnehmung abgekoppelt von einem tatsächlichen Reiz aktiv werden. Die interpretierenden Areale feuern, obwohl gar kein Eingangsreiz vorhanden ist. Unser Gehirn erzeugt so ein absolut realistisches Bild oder einen Höreindruck quasi im Leerlauf – eine Halluzination.
Hirnscans mittels funktioneller Magnetresonanz-Tomografie (fMRT) zeigen, dass während einer Halluzination tatsächlich genau die Hirnareale und Verknüpfungen aktiv werden, die auch bei der Verarbeitung eines echten Reizes feuern. Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied: Die Bereiche, die für den direkten Empfang der Signale von den Sinnesorganen zuständig sind – beispielsweise das primäre Sehzentrum oder Hörzentrum, bleiben inaktiv.
Halluzinationen sind – soviel scheint damit klar – die direkte Folge der komplexen Arbeitsweise unseres Gehirns. Sie werden erst dadurch möglich, dass unser Denkorgan die Wirklichkeit eher interpretiert als jeden Reiz naturgetreu wiederzugeben. Warum sich allerdings dieser Mechanismus manchmal verselbstständigt, ist bei den meisten Formen der Halluzination noch rätselhaft.
Nadja Podbregar
Stand: 24.02.2017