Weil viele Minderheiten glauben, ihre Sprachen seien nutzlos, wollen die Wissenscha¬ftler die Sprecher dazu bringen, sie selbst zu dokumentieren – und so deren unschätzbaren Wert zu erkennen. Das ist auch das erklärte Ziel von Bruna Franchetto. 1976 reiste die Italienerin das erste Mal an den Oberlauf des Rio Xingu im brasilianischen Amazonasgebiet, um die Sprache der
Kuikuro zu erforschen, eines indigenen Volksstamms, der sich bereits im 9. Jahrhundert n. Chr. dort niederließ.
Seit über drei Jahrzehnten besucht sie die Dörfer der Kuikuro und sah über die Jahre, wie Fernsehen, westliche Kleidung, Bücher, Autos und Portugiesisch mehr und mehr die Kultur der Kuikuro infiltrierten – und deren Sprache bedrohten. „Von Anfang an lautete aber der Plan“, so die Anthropologin vom Museu Nacional der Universidade Federal in Rio de Janeiro, „die Kuikuro vom Forschungsobjekt zu tatsächlichen Akteuren zu machen – sie selbst zu ermächtigen.“ Als Franchetto und ihr Team 2001 ihre Forschungen im Rahmen von DobeS fortführten, sollte diese
Idee Wirklichkeit werden. Die jahrelangen Vorarbeiten haben dafür eine Vertrauensbasis geschaffen.
Ermächtigen statt bevormunden
Trotzdem: Die Kuikuro begegneten den Videoaufnahmen mit Misstrauen, weil sie ihnen auf Furcht einflößende Weise Hör- und Sehbares festzuhalten schienen. Doch es fand sich ein Kompromiss: Die Indios machten die Aufnahmen selbst – und schließlich auch das gesamte Projekt. Es bildete sich ein junges Filmteam, das inzwischen mehrere preisgekrönte Filme produzierte; 2006 schlossen zwei Kuikuro ihr Studium ab (einer von ihnen hat sich inzwischen auf die Linguistik spezialisiert); und 2007 wurde vor Ort ein Dokumentationszentrum gegründet.
Die Kuikuro haben den Erhalt ihrer Sprache in die Hand genommen. Was dabei sicherlich auch eine Rolle spielte: Sprache schafft Identität. Das gilt besonders für kleinere Volksgruppen, die meist nicht in einem eigenen Staat organisiert sind. Sprachen zu bewahren, sichert daher nicht nur Wissen für die Zukunft, sondern lässt gesunde Gemeinscha¬ften entstehen.
Doch es wäre illusorisch zu glauben, die Dominanz weniger National- und Verkehrssprachen ließe sich zurückdrängen. „Das hätte auch gar keinen Sinn“, wendet Ulrike Mosel ein, „sonst fänden die Menschen schlicht keine Arbeit.“ Der Blick sollte sich vielmehr für eine längst erprobte Lösung schärfen, die viele kleine Ethnien in Südamerika, Afrika, Russland oder Australien seit jeher praktizieren: Sie sind zwei-, drei-, vier oder gar fünfsprachig. Ein Vorbild, das Schule machen könnte? „Ja“, nickt Mosel, „stabile mehrsprachige Gesellschaften könnten unsere Sprachenvielfalt retten.“
Karin Schlott / VolkswagenStiftung, Broschüre Bedrohte Sprachen
Stand: 24.05.2013