Zoologie

Riesenschlangen sind (keine) Menschenfresser

Legenden, Halbwahrheiten und Klischees

„Riesenschlangen haben die Phantasie der Menschen schon immer beflügelt, aber hier hat die Realität die Fantasien von Hollywood klar übertroffen. Die Schlange, die versuchte Jennifer Lopez im Film ‚Anaconda’ zu verschlingen, war nicht mal annähernd so groß wie die, die wir nun gefunden haben“, sagt Jonathan Bloch von der Universität von Florida, der entscheidend an der Entdeckung der 60 Millionen Jahre alten Titanoboa beteiligt war.

Anakonda (Eunectes murinus) © Ltshears / GFDL

„Anaconda“ – Fiktion statt Realität

Realität schlägt Fiktion: Das will schon etwas heißen. Denn die Regisseure des Horrorfilm-Genres geizen in ihren Werken wahrlich nicht mit Superlativen zu den Tieren – und sie verbreiten Legenden, Halbwahrheiten und Klischees über Riesenschlangen, die mit dem wahren Leben der Tiere so gut wie nichts gemein haben.

So wimmelt es im von Bloch genannten Thriller „Anaconda“ nur so von Fehlern und Gruseleffekten, die vor allem die Spannung erhöhen sollen, aber ansonsten frei erfunden sind. So kann eine Anakonda – eine der heute rund 70 Riesenschlangenarten weltweit -, gar keine in der Kehle gebildete Laute von sich geben, wie im Film mehrfach zu hören. Die Tiere peitschen auch nicht mit dem Schwanz im Wasser herum, geschweige denn können sie einen Menschen innerhalb einer Minute herunterwürgen.

Wie groß sind Riesenschlangen?

Eher der Sensationslust geschuldet denn Realität sind auch die meisten Größenangaben zu Riesenschlangen wie Anakonda, Python oder Boa – egal ob im Kino oder in Presseberichten. In der Regel entpuppen sich vermeintliche Rekorde von zwölf Metern oder mehr bei genauem Nachmessen als völlig übertrieben oder die Tiere sind plötzlich wie von Zauberhand ganz verschwunden.

Als größte Schlange der Neuzeit gilt unter vielen Experten deshalb ein im Jahr 1912 in Indonesien entdeckter Netzpython von 9,99 Metern Länge. Dabei handelte es sich nicht etwa um ein Männchen, sondern um ein besonders stattliches weibliches Tier. Dies ist kein Zufall, denn bei Riesenschlangen sind letztere in der Regel deutlich größer und schwerer als die „Herren der Schöpfung“. Schlangenforscher, so genannte Herpetologen, sprechen deshalb auch von einem ausgeprägten Geschlechtsdimorphismus.

Menschen passen nicht ins Beuteschema

Alles Lüge also, was man so über Riesenschlangen hört und liest? Ja und nein. Das wird deutlich, wenn man einem weiteren häufig genannten Vorwurf auf den Grund geht: Riesenschlangen sind Menschenfresser. Unstrittig ist, dass schon des öfteren Kinder, aber auch Erwachsene von Anakondas oder Pythonschlangen getötet wurden. Grund dafür war allerdings meist wohl mangelnde Vorsicht oder Sorglosigkeit der Opfer im Umgang mit Riesenschlangen. Dass es die Tiere besonders auf Menschen abgesehen haben, ist dagegen nach Ansicht von Wissenschaftlern nichts als blanker Unsinn.

Mit Vorsicht zu genießen sind auch Meldungen, wonach Riesenschlangen regelmäßig Menschen auffressen. Eines der wenigen authentischen Beispiele für eine solche Schlangenmahlzeit stammt aus dem Jahr 1998. Auf der philippinischen Insel Mindoro war damals ein Einheimischer in der Abenddämmerung auf Fledermausjagd in den Wald gegangen. Doch schon bald hörten Dorfbewohner in der Dunkelheit verzweifelte Hilfeschreie. Dann war es plötzlich still.

Ein grausiger Fund

Die Entdeckung des grausigen Fundes am nächsten Tag schildert der Herpetologe Lutz Dirksen auf seiner Website anakondas.de so: „Am frühen Morgen wurde der Philippine dann gesucht und eine Blutspur führte zu einem Gebüsch, unter dem sie einen über sieben Meter langen Netzpython mit prall gefülltem Leib fanden. Sie töten die Riesenschlange und schnitten ihr den Bauch auf und sahen, dass ihre schlimmsten Befürchtungen wahr wurden. Im Verdauungstrakt fanden sie den Mann inmitten schleimiger Verdauungssäfte. Die Haut war bereits angeätzt und ein bestialischer Gestank soll sich verbreitet haben. An seinem linken Fuß befanden sich Biss-Spuren.“ Laut Dirksen ist nicht rekonstruierbar, ob der Netzpython zubiss, weil ihm der Mann im Dunkeln zu nahe gekommen war oder ob die Schlange bewusst angegriffen hatte, um ihn zu fressen.

Hypnose …

Einige Anakonda & Co zugeschriebene, meist negative, Eigenschaften lassen sich mit völlig harmlosen biologischen Phänomen erklären. So säuselt die Riesenschlange Kaa im 1967 entstandenen Disney-Film „Dschungelbuch“: „Hör‘ auf mich, glaube mir. Augen zu, vertraue mir! Schlafe sanft, süß und fein. Will dein Schutzengel sein! Sink‘ nur in tiefen Schlummer, schwebe dahin im Traum, langsam umgibt dich Vergessen, doch das spürst du kaum!“ Dabei schaut sie dem Hauptdarsteller Mogli, einem als Baby im Dschungel ausgesetztem Menschjungen, tief in die Augen. Kaa versucht ihn so zu hypnotisieren und in ein willenloses Opfer zu verwandeln. Allerdings vergeblich.

Rote Regenbogenboa (Epicrates cenchria cenchria) © Angela Rothermann / GFDL

… oder „böser Blick“?

Viele Naturvölker glauben auch heute noch immer, dass die Reptilien auch den „bösen“ Blick besitzen, der Tod oder Unheil über alle bringt, auf die dieser fällt. Hintergrund für den Aberglauben ist, dass Riesenschlangen – wie viele andere Schlangen auch – ihre Umgebung mit einem starren und oft auch grimmig oder bösartig wirkenden Blick fixieren. Die Erklärung dafür ist jedoch simpel. Denn die Tiere besitzen nicht wie der Mensch undurchsichtige und bewegliche Augenlider, sondern sie tragen eine Art unsichtbare „Brille“. Dabei handelt es sich um ein dünnes Häutchen, das immer geschlossen, aber dafür glasklar ist und die Augen der Reptilien schützt. Riesenschlangen können also aus biologischen Gründen gar nicht blinzeln, sie sind zum Starren „verdammt“.

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Dieter Lohmann
Stand: 15.10.2010

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In den Schlagzeilen

Inhalt des Dossiers

Züngelnde Giganten
Die Welt der Riesenschlangen

Die längste Schlange der Welt
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Riesenschlangen sind (keine) Menschenfresser
Legenden, Halbwahrheiten und Klischees

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