Raketentestgelände Tjuratam, 12. April 1961, 09:06 Uhr Moskauer Zeit. Hier, in der Einsamkeit der kasachischen Steppe, beginnt in diesem Moment ein historisches Abenteuer: der erste Flug eines Menschen in den Weltraum. Auf der Startrampe des zu dieser Zeit noch streng geheimen Militärkomplexes steht eine knapp 40 Meter hohe Rakete, fast verhüllt von den sie haltenden Starttürmen. In der Spitze des Kolosses, in einer nur rund 2,30 Meter großen Kapsel Wostok-1, ein Mensch: der 27-jährige Kosmonaut Juri Alexejewitsch Gagarin.
Der Countdown tickt auf null. Kerosin und flüssiger Sauerstoff strömen in das Zentraltriebwerk und die außenliegenden Zusatzdüsen entzünden sich donnernd. Ein Vibrieren geht durch den Raketenkörper, der noch in den Halterungen der Starttürme hängt, Rauch und Flammen schießen aus seinem Hinterende und hüllen alles meterhoch ein.
„Pojechali!“
59 Sekunden nach dem Start. Jetzt ist der entscheidende Moment gekommen: Die Triebwerke haben nun genügend Schub, um das Gewicht der Rakete zu tragen, die Wostok schwebt für einen kurzen Moment scheinbar schwerelos auf ihrem eigenen Feuerstrahl. In diesem Augenblick öffnet sich die „Tulpe“ der Startarme und die letzten Halterungen geben die Rakete frei. „Pojechali! – Los geht’s!“, meldet Gagarin an die Bodenstation. Der Aufstieg von Gagarin in der Wostok-1 beginnt. Sein Ziel: die Umlaufbahn der Erde.
Zu diesem Zeitpunkt weiß außerhalb von Tjuratam nur eine Handvoll Menschen in den Führungsetagen von KGB, Militär und Partei, was dort gerade geschieht. Weder die Bevölkerung der Sowjetunion noch die der Bündnisstaaten und schon gar nicht der Erzrivale USA ahnen etwas. An der amerikanischen Ostküste ist es zu diesem Zeitpunkt gerade kurz nach elf Uhr abends, in den „Horchposten“ der CIA und anderer Überwachungseinheiten beginnt die Nachtschicht nichtsahnend ihren Dienst.
Wostok-1 im Orbit
T plus 676, elf Minuten nach dem Start. Nach planmäßigem Abwurf der dritten Brennstufe und der Schutznase über der Wostok-Kapsel erreicht Gagarin den Orbit. Zum ersten Mal in der Geschichte ist ein Mensch der Anziehungskraft der Erde entflohen und erlebt die Schwerelosigkeit des Weltraums. „Ich sehe die Erde! Ich sehe die Wolken, es ist bewundernswert, was für eine Schönheit!“, schildert der Kosmonaut den Blick auf das 200 Kilometer unter ihm liegende Sibirien aus dem Kapsel-Bullauge.
Minuten später passiert Wostok-1 die Pazifikküste und kreuzt den Ozean in Richtung Südamerika. Ob die orbitalen Parameter der Sonde mit der geplanten Route übereinstimmen, ist zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht klar. Gagarin fragt nach, will wissen, ob alles glatt verläuft, erhält jedoch keine nähere Auskunft.
Feind hört mit
Gagarins Anfrage wird aber auch von anderer Stelle gehört: Eine elektronische Überwachungsstation an der Küste Alaskas fängt die Signale auf und alarmiert die US-Geheimdienstler und Militärs. Für sie ist es daher nur noch eine Bestätigung ihrer Niederlage, als die sowjetische Nachrichtenagentur TASS 55 Minuten nach dem Start von Wostok-1 endlich verkündet: „Das erste Satellitenschiff der Welt ‚Wostok‘ mit einem Menschen an Bord ist von der Sowjetunion aus in den Orbit gestartet worden. Der Pilot-Kosmonaut des Raumschiffs ist ein Bürger der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, Fliegermajor Juri Alexejewitsch Gagarin.“
Nach dem ersten künstlichen Satelliten, Sputnik, ist es damit der Sowjetunion erneut gelungen, den USA in einem wichtigen Meilenstein der Raumfahrt zuvorzukommen. Der Flug der Wostok-1 ist der vorläufige Höhepunkt im erbitterten Kampf der beiden politischen Systeme um Einfluss, Macht und technologische Potenz – auf der Erde wie im Weltraum. Erpicht darauf, ihre jeweilige Überlegenheit zu demonstrieren, setzen beide Staaten seit Ende des Zweiten Weltkriegs alles daran, sich gegenseitig in militärischer, aber auch in ziviler Technik zu übertrumpfen.
Eine Stunde und 48 Minuten nach dem Start hat Gagarin den Planeten Erde einmal umkreist. Als dann auch seine Landung sicher gelingt, ist der Triumpf der Sowjetunion perfekt. Wie aber konnte das vermeintlich technologisch rückständigere System die mächtigen USA in diesem Wettlauf schlagen?
Nadja Podbregar