Obwohl Wissenschaftler immer wieder neue Phänomene der Natur entdecken und erforschen, bleibt deren Potenzial als Vorbild für technische Entwicklungen zunächst meist unerkannt. So erging es auch dem Phänomen des Lotus-Effekts.
In den 70er Jahren untersuchen der Botaniker Wilhelm Barthlott und seine Kollegin Nesta Ehler eine Reihe von Pflanzenblättern mithilfe des damals neuen Rasterelektronenmikroskops. Sie wollen wissen, ob sich die Verwandtschaft verschiedener Pflanzengruppen in den Oberflächenstrukturen ihrer Blätter widerspiegelt.
Bei der Präparation der Blätter fällt ihnen auf, dass erstaunlicherweise gerade Blätter mit glatten Oberflächen meist schmutziger sind als solche, die unter dem Mikroskop rauhe Strukturen zeigten. Besonders deutlich wird dieser Effekt bei der Lotuspflanze Nelumbo nucifera: Ihre mikroskopisch fein genoppten und mit Wachskristallen besetzten Blätter lassen das Wasser und Schmutz vollkommen abperlen.
Da diese Beobachtung den beiden Forschern zunächst zu nebensächlich erscheint und zudem den gängigen Theorien der Oberflächentechniker widerspricht, beschreiben sie das Phänomen nur in einer kleinen Randnotiz und messen ihm keine weitere Bedeutung bei. Es sollte zwölf Jahre dauern, bis der Lotus-Effekt wieder aus der Versenkung auftaucht. Erst 1989 greifen Barthlott und sein Doktorand Christoph Neinhuis das „Phänomen der sauberen Blätter“ wieder auf und gehen der Sache in Experimenten und mikroskopischen Studien auf den Grund.
Sie entdecken dabei nicht nur den Trick, der den Blättern zu ihrer selbstreinigenden Oberfläche verhilft, sondern können auch klären, welcher Nutzen sich für die Pflanzen dahinter verbirgt: Eine Kombination von stark gewölbten oder noppenförmigen Hautzellen und der Absonderung wasserabweisender Wachskristalle verhindert beispielsweise bei der Lotuspflanze, dass sich Wasser und die womöglich in ihnen schwimmenden schädlichen Pilzsporen oder Bakterien länger auf dem Blatt aufhalten. Statt dessen perlt jeder Tropfen ab und nimmt dabei gleich auch allen Staub und Schmutz mit weg.
Ausgehend von diesem biologischen Modell gelingt es den Biologen, das Prinzip auf eine künstliche Oberfläche zu übertragen. Sie melden das Verfahren zum Patent an und arbeiten in Kooperation mit der Industrie an der Umsetzung für technische Anwendungen. Inzwischen sind die ersten dieser Anwendungen bereits auf dem Markt: Im Oktober 1999 präsentierte ein Baustoffunternehmen selbstreinigende Dachziegel, von denen mithilfe des Lotuseffekts Wasser und Schmutz abperlen. Fast zeitgleich wurde die Fassadenfarbe „Lotusan“ auf der Basis desselben Prinzips lanciert. Sie soll nicht nur Schmutz und Feuchtigkeit der Fassade verringern, sondern, wie beim natürlichen Vorbild Lotus, gleichzeitig auch Schutz vor Pilz- und Bakterienbefall bieten.
An Einsatzmöglichkeiten für ähnliche Mikrostrukturen arbeiten inzwischen auch Forscher der Fraunhofer-Institute. Denn je nach Struktur können solche Mikroprofile nicht nur Wasser und Schmutz abweisen, sondern Rutschfestigkeit erzeugen, den Strömungswiderstand verringern oder sogar als Miniklettverschlüsse lösbare Verbindungen schaffen. Die Wissensschaftler suchen heute vor allem nach Methoden, wie sich die winzigen Strukturen einfach und kostengünstig auch auf große Oberflächen übertragen lassen. Gelingt dies, könnten uns diese „zauberhaften Effekte“ schon bald auch in Alltagsgegenständen begegnen.
Stand: 21.03.2002