Der mystische Ruf des Altai gilt vor allem auch darauf zurück, dass hier eine Art Ur-Schamanismus praktiziert wird, der die Menschen seit deren Entdeckung fasziniert und begeistert. Die ersten Schilderungen schamanischer Riten im Altai gehen auf europäische Reisende zurück, die im 17., 18. und 19. Jahrhundert Sibirien erkundeten.
New-Age und harte Wissenschaft
Sie erzählten von Geisterbeschwörungen und Wunderheilungen, die sie bei den Schamanen erlebten, unheimlichen Sitzungen, in denen die Schamanen sich in Trance sangen und tanzten und offensichtlich den Kontakt zu anderen Welten aufnahmen. Bis heute hat sich die Faszination für solche fremdartigen, schamanischen Praktiken erhalten.
Anthropologen und Ethnologen, die die Entwicklung von Kulturen, Religionen und verschiedener Ethnien untersuchen, sehen den Schamanismus weitaus nüchterner, weit entfernt von westlicher New-Age-Hysterie und menschlicher Sinnsuche.
Weniger traditionell als gedacht
Die deutsche Ethnologin Ulla Johansen von der Universität Köln bezweifelt, dass es sich beim Schamanismus um einen „exotischen, sehr alten und seit Jahrtausenden unveränderten religiösen Komplex“ handelt. „Bücher und Filme, die den Schamanismus in dieser Weise darstellen, erreichen offensichtlich viel mehr öffentliche Aufmerksamkeit und entsprechend mehr finanzielle Mittel als Berichte über weniger aufwendige religiöse Rituale,“ so Johansen. „Dies gilt besonders seit den letzten beiden Dekaden, in denen der Schamanismus als exotischer Kult große Popularität gewonnen hat.“
Johansen beispielsweise sieht einen Unterschied zwischen dem Schamanismus, der im Altai vor der Zeit der Sowjetunion praktiziert wurde und dem nach dem Zusammenbruch. Während der Sowjetzeit war Schamanismus strikt verboten, wer bei einer schamanischen Sèance erwischt wurde, wurde vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen oder musste gar mit dem Tode rechnen.
Problem Neo-Schamanismus
Heute gelte der Schamanismus in Sibirien dagegen als Teil der ethnischen Identität, so Johansen, und würde, weil nunmehr erlaubt, auch bewusst zur Identitätsfindung herangezogen. Doch was Touristen, Fernsehteams und Politiker zu sehen bekämen, habe selten etwas mit „klassischem Schamanismus“ zu tun, der möglicherweise unspektakulärer sei, als erwartet. So stellte Johansen fest, dass der „Neo-Schamanismus“ im Altai oft genau das widerspiegele, was im Westen von selbst ernannten Schamanismus-Experten zum Thema veröffentlicht worden sei – mit Schmuck und Symbolen behängte Kleidung, Trommelwirbel, Tanz-Sèancen und Einführungskurse für zahlende Europäer, in denen die sich Schamanenwissen innerhalb weniger Tage aneignen könnten. Diese Rückkopplung sei durch das enorme Interesse entstanden, das die Menschen im Altai natürlich auch wahrnähmen und auf das sie reagierten.
Johansen stellt die Existenz von Schamanismus nicht in Frage, auch nicht die Fähigkeit einzelner Heiler oder Schamanen, beispielweise psychosomatische Krankheiten zu lindern. Aber sie warnt vor einem Schamanismus, der mehr oder weniger auf die „Erfindung von Ethnologen“ zurückgehe.
Vernachlässigte Geister
Welche Rolle der Schamanismus bei den Altaibewohnern selbst spielt, hat die Anthropologin Manduhai Buyandelgeriyn von der Harvard-Universität bei Burjaten in der Mongolei untersucht. Den Zusammenbruch der Sowjetunion und des sozialistischen Systems hätten viele Mongolen als schweren Schicksalsschlag empfunden, im Sinne ihrer, Gemeinschaft und Natur gleichermaßen umfassenden, Lebensphilosophie häufig auch als Strafe. Dass ihnen dieses Unglück widerfahren sei, führten viele der von Buyandelgeriyn interviewten Burjaten beispielsweise auf die Vernachlässigung der Geister während der Sowjetzeit zurück.
Einen Ausweg aus der schwierigen wirtschaftlichen Situation und die Lösung von damit verbundenen persönlichen Problemen erhofften sich viele Burjaten mithilfe traditioneller Schamanen.
Schamanismus als Marktlücke
Die, so Buyandelgeriyn, hätten auch in der Mongolei eine Renaissance erfahren, nicht zuletzt als rein marktwirtschaftliche Reaktion auf die erhöhte Nachfrage. Erstaunlicherweise gehe die Konsultation von Schamanen aber mit einem großen Misstrauen der Klienten einher. Ist der Schamane überhaupt in der Lage, das Problem zu benennen und zu lösen? Aus diesem Grund würden wiederum weitere Schamanen zu Rate gezogen, deren Empfehlungen dann erneute Prüfungen nach sich zögen. Mit einer „Wiederbelebung historischer Wurzeln“ habe dies nichts zu tun, eher mit einer Verunsicherung innerhalb eines neuen Systems.
Stand: 12.09.2009