23. September 2011, ein Raum im Forschungszentrum CERN bei Genf. Der Raum ist bereits jetzt, eine halbe Stunde vor Beginn der Präsentation proppenvoll. Wissenschaftler und Journalisten aus aller Welt sitzen auf den Stufen des Auditoriums, in den Gängen und drängen sich an den Türen. Keiner will das Entscheidende verpassen. Denn in wenigen Minuten werden Teilchenphysiker Dario Autiero und seine Kollegen hier etwas berichten, das – sollte es sich bestätigen, eine einmalige Sensation wäre. Denn es geht um nichts weniger als das Ende eines der Fundamente der Physik: die Unüberschreitbarkeit der Lichtgeschwindigkeit.
Nach gängiger Theorie können Teilchen, die eine Masse besitzen, nie schneller fliegen als das Licht. Denn mit zunehmender Annäherung an die Lichtgeschwindigkeit wächst die für ihre Bewegung benötigte Energie so stark an, dass sie diese nie ganz erreichen können. Doch die Forscher des CERN und des Neutrino-Observatoriums im italienischen Gran Sasso sollen etwas ganz anderes festgestellt haben: Ein Strom von Neutrinos soll, so verkündet Projektmitglied Autiero in seiner Präsentation, diese magische Grenze überwunden haben.
730 Kilometer durch Alpen – mit Überlichtgeschwindigkeit?
Im Rahmen ihres Experiments hatten die Forscher einen Strahl von Neutrinos vom Teilchenbeschleuniger des CERN nahe Genf bis nach Gran Sasso geschickt – 730 Kilometer weit einmal quer durch das Gestein der Alpen. Die Physiker maßen mit Hilfe von hochgenauen Atomuhren und dem GPS-System, wie schnell die mehr als 15.000 Teilchen diese Strecke zurücklegten. Dabei habe man festgestellt, dass die Geschwindigkeit der Neutrinos auf dieser Strecke um rund 20 Millionstel höher gelegen haben musste als die Lichtgeschwindigkeit, berichten die Wissenschaftler.
Nach Einstein ist dies eigentlich ein Ding der Unmöglichkeit – das ist auch den CERN- und OPERA-Physikern durchaus bewusst. Dutzende Male gehen sie deshalb alle Schritte und Komponenten des Experiments noch einmal durch. „Nach Monaten der Analyse und Gegentests haben wir aber keinen Instrumentenfehler finden können, der dieses Ergebnis der Messungen erklären könnte“, erklärt Antonio Ereditato, der Sprecher der OPERA-Kollaboration, dann schließlich dem versammelten Publikum. Heißt das, Einstein ist widerlegt? „Das würde ich niemals behaupten“, betont der Physiker. „Aber wir können unser Ergebnis auch nicht einfach unter den Teppich kehren, das wäre unehrlich.“
Fehlersuche im Kleinen und Großen
Am naheliegendsten wäre einfach ein Fehler in der Zeitmessung, beispielsweise, weil die Uhren im CERN und in Gran Sasso nicht genau synchron laufen. Aber die Zeitdifferenzen zwischen Start und Ziel der Neutrino-Rennstrecke lägen gerade einmal bei 2,3 Nanosekunden – zu wenig, um das Ergebnis zu erklären, meinen die Forscher. Weitere Nanosekunden könnten dadurch hinzukommen, dass die genaue Abflugzeit der einzelnen Neutrinos aus der Teilchenkanone leicht schwanken kann. Insgesamt aber, so konstatieren die Physiker, machten alle Fehler zusammen nur zehn Nanosekunden aus – weniger als die gemessene Abweichung von der Lichtgeschwindigkeit.
Nach Ende der Präsentation werden Fragen im Auditorium laut: Könnten nicht die Tageszeiten oder sogar die Gezeitenkräfte die Messungen verfälscht haben? Immerhin sorgt die Schwerkraft des Mondes dafür, dass sich selbst das massive Gestein des Untergrunds leicht hebt und senkt. Doch darauf gibt es keine Hinweise, wie die OPERA-Physiker erklären. Messungen zu verschiedenen Zeiten zeigten das gleiche Ergebnis. Und wie ist es mit einem Effekt der Temperatur auf die Genauigkeit der GPS-Signale? Auch das habe man ausgeschlossen, lautet die Antwort.
Letztlich sind sich auch die Physiker des OPERA-Projekts nicht sicher, was sie da eigentlich festgestellt haben – ist es eine Sensation? Oder steckt doch irgendwo ein Denk- oder Technikfehler? „Wenn ein Experiment ein scheinbar unglaubliches Ergebnis liefert und es gibt keinen Fehler in der Messung, der dafür verantwortlich sein könnte, dann muss man dies veröffentlichen, damit es von anderen überprüft werden kann“, sagt Bertolucci. Genau dies habe man nun getan. Weitere Experimente müssten nun zeigen, ob das Ergebnis bestehen bleibe oder doch auf einen Fehler zurückgehe.
Nadja Podbregar
Stand: 11.05.2012